»Diese »Humanität« unserer Eltern war offenbar auch der Grund, weshalb sie sich zu ihren Lebzeiten nicht entschließen konnten, uns in ein Gymnasium zu geben, obgleich das bedeutend weniger gekostet hätte. Die Gymnasien standen damals in keinem guten Rufe und die Schüler wurden in ihnen für jedes geringste Vergehen körperlich bestraft. Deshalb zogen die Eltern eine Privatschule vor, und als die Vorbereitung der Brüder beendet war, kamen sie zu Anfang des Lehrjahres 1834 in das Pensionat von L. J. Tschermak, das zu den ältesten Privatlehranstalten Moskaus gehörte und damals schon seit mindestens zwanzig Jahren bestand. Das Haus lag in der Neuen Basmannajastraße, neben dem Polizeiamt dieses Reviers. Ich kam zwar erst später in dieses Pensionat, als meine Brüder es bereits verlassen hatten, aber da es dort zu ihrer Zeit nicht viel anders gewesen sein dürfte, will ich kurz die Verhältnisse schildern.
»... Privatschule von L. J. Tschermak kam dem Ideal einer geschlossenen Lehranstalt recht nahe. Ihr fehlte nicht der Charakter des Heims, der Familie. Die Lehrer waren durchweg gute Kräfte, die ausnahmslos von den staatlichen Schulinspektoren empfohlen waren, und in der letzten Klasse unterrichteten späterhin sogar Universitätsprofessoren. Der Unterricht begann täglich um 8 Uhr: die erste Stunde war von 8 bis 10, die zweite von 10 bis 12; dann kam das Mittagessen. Von 2 bis 4 und von 4 bis 6 gab es wieder Unterricht. Nach dem Tee hatte man die Aufgaben zu lernen und um 9 Uhr aß man zu Abend; und dann gingen alle ins Schlafzimmer. Tschermak war ein schon bejahrter Mann und eigentlich wenig oder gar nicht gebildet, aber er besaß jenen Takt, der oft den gebildetsten Schuldirektoren abgeht. Zu Anfang jeder Stunde ging er durch alle Klassen, und wenn er in einer Klasse den Lehrer noch nicht antraf, blieb er dort so lange, bis der Lehrer kam, dem er dann mit dem gütigsten Lächeln die Hand reichte, während er mit der Linken seine Taschenuhr hervorzog, gleichsam um für sich selbst festzustellen, welche Zeit es denn sei. Bei solchen Gepflogenheiten tat natürlich ein jeder sein möglichstes, um nicht zu spät zukommen. Doch vor allen Dingen war unser Alter ein Gemütsmensch. Er ging auf alle, auch auf die geringsten Bedürfnisse der ihm anvertrauten Kinder ein. Wenn ein Schüler sich ausgezeichnet und eine Vier erhalten hatte (damals war Vier die beste Note), so rief er ihn ganz ernst zu sich ins Kabinett und händigte ihm dort ein kleines Bonbon ein. Es kam vor, daß er mit dieser Belohnung auch Schüler der höheren Klassen auszeichnete, doch niemals machte sich auch nur einer von ihnen darüber lustig. Wenn jemand von den Pensionären erkrankte, schickte Tschermak ihn sofort zu seiner Frau: »... zu Augusta Franzowna«. Die steckte den Erkrankten sogleich ins Bett und sandte unverzüglich nach dem Hausarzt – damals Doktor W. W. Treiter.«
Andrei Michailowitsch führt auch die Namen einzelner bedeutender Männer an, die Tschermaks Pensionäre gewesen sind; und auch Fjodor Michailowitsch hat darauf hingewiesen, daß mehrere namhafte Persönlichkeiten, u. a. auch Mühlhausen, der nachmalige Rektor der Moskauer Universität, mit ihm zusammen bei Tschermak Unterricht genommen haben.
»Also in dieses Pensionat,« fährt Andrei Michailowitsch fort, »traten meine Brüder im Jahre 1834 ein. Auch meine älteste Schwester war damals in einem Mädchenpensionat. An den freien Tagen, die sie zu Hause verbrachten, mußten sie mich auf Wunsch der Eltern unterrichten: Michail in Arithmetik und Geographie, Fjodor in Geschichte und Russisch, und Warwara in der französischen und deutschen Sprache. Schon am Morgen des letzten Wochentages begann man die Rückkehr der Kinder ins Elternhaus zu empfinden. Auch die Eltern wurden ein wenig heiterer und zum Mittagessen wurde noch irgend etwas Besonderes hinzugefügt, kurz, es lag etwas Feiertägliches in der Luft. Ja, an diesem Tage wurde sogar die ewig feststehende Tischzeit (12 Uhr) verschoben, denn bis der Wagen hinfuhr, die Brüder sich zurechtmachten usw. vergingen gute 1+½-2 Stunden. (Die Schwester wurde erst gegen Abend abgeholt.) Doch kaum waren die Brüder angelangt, da kam schon, noch bevor man sich richtig begrüßt hatte, das Essen auf den Tisch, und noch bevor sie ihren ersten Hunger gestillt hatten, begann das Erzählen. Zuerst wurden wahrheitsgetreu alle Noten gemeldet, die sie im Laufe der Woche erhalten hatten, dann wurde von den Lehrern erzählt, von den anderen Schülern, von verschiedenen, manchmal nicht ganz harmlosen Streichen der Kameraden. Darüber verging die Zeit und die Mahlzeit dauerte bedeutend länger als sonst. Die Eltern hörten befriedigt zu und schwiegen, indem sie die Kinder sich aussprechen ließen. Ich kann wohl versichern, daß die Brüder alles mit vollkommenster Aufrichtigkeit den Eltern erzählten. Aber es kam nie vor, daß der Vater bei der Gelegenheit den Söhnen Moral gepredigt hätte. Wenn sie von den Streichen der Kameraden erzählten, sagte er nur hin und wieder: »so ein Schlingel«, oder »so ein Raufbold«, oder »so ein Taugenichts« und ähnliches, doch niemals fügte er hinzu, etwa: »Hört! daß ihr mir nicht dasselbe tut!« Ich glaube, mit diesem Verhalten wurde zu verstehen gegeben, daß der Vater sogar die Möglichkeit für ausgeschlossen hielt, auch seine Söhne könnten ähnliche Streiche verüben. Nach Tisch wurde noch ein wenig geplaudert, und dann setzten sich die Brüder an die Lhombretische und gaben sich ganz der Lektüre der Bücher hin, die sie regelmäßig aus dem Pensionat mitbrachten. Selten habe ich gesehen, daß sie sich am Sonnabend oder Sonntag mit dem Lernen ihrer Aufgaben beschäftigten oder überhaupt ihre Schulbücher mitgenommen hatten. Später, etwa im Jahre 1836, sprachen sie mit besonderer Begeisterung von ihrem Lehrer der Literatur und russischen Sprache, der förmlich ihr Abgott zu sein schien, da sein Name beständig in ihrem Munde war. Leider kann ich mich auch auf diesen Namen nicht mehr besinnen.
»... habe schon erwähnt, daß bei uns abends, wenn wir uns im Wohnzimmer versammelten, immer vorgelesen wurde. Die Eltern lasen abwechselnd vor, und später taten es auch die Brüder, wenn die Eltern müde waren. Es wurden hauptsächlich Geschichtswerke vorgelesen, wie die ›Geschichte des russischen Reiches‹ von Karamsin, desgleichen seine ›Briefe eines russischen Reisenden‹; ferner Gedichte von Derschawin, Übersetzungen von Shukowski, von Puschkin vornehmlich die Erzählungen und noch vieles andere.«
Nach Fjodor Michailowitschs eigenen Aussagen hat er mit Vorliebe Reisebeschreibungen gelesen, und unter dem Eindruck solcher Lektüre ist es alsbald sein Traum, sein glühendster Wunsch gewesen, einmal nach Venedig zu reisen (wie Iwan Karamasoff), und nach Konstantinopel und überhaupt nach dem Orient, der sein Vorstellungsvermögen gewaltig beschäftigte.
»... älteren Brüder lasen beständig, ja jeden Augenblick ihrer freien Zeit verbrachten sie mit Lektüre. In Fjodors Händen sah ich am häufigsten die Romane von Walter Scott, ›Quentin Durward‹ und ›Waverley‹, die er trotz der altmodischen und schwerfälligen Übersetzung immer wieder las. Dasselbe tat er auch mit allen Werken von Puschkin. Ob er damals auch Gogol schon kannte, vermag ich nicht zu sagen. Aber Karamsins ›Geschichte Rußlands‹ lag bei ihm ständig auf dem Tisch: die konnte er immer wieder lesen, wenn er gerade nichts Neues hatte. Außerdem brachten die Brüder die bunten kleinen Monatserscheinnngen der ›Lesebibliothek‹ mit nach Hause, die damals zu erscheinen begann. Die Eltern lasen übrigens diese Bücher nie. Fjodor bevorzugte im allgemeinen ernste Prosalektüre, im Gegensatz zu Michail, der Poesie liebte und damals bereits selbst dichtete (womit Fjodor sich nicht abgab). Aber für Puschkin schwärmten sie beide, und wenn ich nicht irre, konnten sie alle seine Gedichte auswendig. Puschkin lebte damals noch. Sein Name wurde in der Literaturgeschichte kaum erwähnt und seine Werke wurden in den Schulen noch nicht durchgenommen, geschweige denn auswendig gelernt, wie dies jetzt geschieht. Puschkins Ansehen als Dichter war eben damals viel geringer als das Ansehen Shukowskis, sogar bei den Literaturhistorikern, und ebenso natürlich bei unseren Eltern, was von seiten der Brüder, besonders von Fjodor, mehrfach den lebhaftesten Widerspruch hervorrief. Ich erinnere mich noch, wie sie damals gleichzeitig jeder ein Gedicht auswendig lernten: Michail die Shukowskische Übersetzung des ›Grafen von Habsburg‹ und Fjodor – gleichsam als Gegenstück – Puschkins Ballade ›Oleggs Tod‹. Als sie die Gedichte den Eltern vorgetragen hatten, gaben diese dem ersteren den Vorzug, gewiß nur deshalb, weil es von Shukowski war. Unsere Mutter hatte übrigens seitdem eine besondere Vorliebe für diese beiden Gedichte, und oft bat sie die Brüder, sie vorzutragen; sogar während ihrer letzten Krankheit, als sie schon ganz zu Bett lag (sie starb an der Schwindsucht) hörte sie ihnen immer noch mit Genuß zu.