»... besonders gefällt mir daran,« bemerkte ich unter anderem, »... Ihr Opponent gleichfalls sehr klug ist. Sie müssen doch zugeben, daß er Sie in vielen Fällen an die Wand drückt.«
»... eben darin liegt ja der ganze Witz,« sagte Herzen lachend. »Warten Sie, ich werde Ihnen eine Anekdote erzählen. Einmal, als ich in Petersburg war, schleppte mich Bjelinski zu sich, ich mußte mich hinsetzen und einen Artikel anhören, an dem er gerade mit Eifer schrieb: ,Ein Gespräch zwischen Herrn A. und Herrn B/.' (Der Artikel ist später in die Gesamtausgabe seiner Werke aufgenommen worden.) In diesem Artikel ist Herr A., natürlich Bjelinski selbst, als ein sehr kluger Mensch gezeichnet, Herr B. dagegen, sein Opponent, als etwas weniger klug. Als er geendet hatte, fragte er mich in fieberhafter Erwartung:
»Nun, was, wie findest du's?«
»Tja, gut, ganz gut, und man sieht, daß du sehr klug bist, nur – was macht dir denn das für einen Spaß, mit einem solchen Dummkopf deine Zeit zu vergeuden?«
Bjelinski warf sich auf den Diwan, mit dem Gesicht aufs Kissen, und schrie, fast erstickend vor Lachen:
»Erschlagen! Erschlagen!«
Menschen von damals
Veröffentlicht im Januar 1873 in Nr. 2 des »Bürgers« als zweiter Beitrag unter dem fortlaufenden Titel »Tagebuch eines Schriftstellers«. E. K. R.
Diese Anekdote von Bjelinski erinnert mich an mein erstes Auftreten in der Literatur vor Gott weiß wieviel Jahren; eine traurige, für mich verhängnisvolle Zeit. Mir fällt gerade Bjelinski selbst ein, wie er damals war, als ich ihn kennen lernte, und wie er mich zum erstenmal empfing.Im Jahre 1845. Siehe »Alte Erinnerungen« im vorliegenden Bande. E. K. R. Mir fallen jetzt oft Menschen von damals ein, natürlich deshalb, weil ich jetzt oft auf Menschen von heute stoße. Bjelinski war die begeisterungsfähigste Persönlichkeit von allen, die mir in meinem Leben je begegnet sind. Herzen war etwas ganz anderes: Der war ein Produkt unseres Herrentums, war vor allen Dingen gentilhomme russe et citoyen du monde, – ein Typ, der nur in Rußland erschienen ist und der auch außer in Rußland nirgendwo hätte erscheinen können. Herzen ist nicht emigriert, er hat nicht die Grundlage zur russischen Emigration gelegt, – nein, er war einfach schon als Emigrant geboren. Sie sind ja alle, alle die von seiner Art und seines Standes, ganz einfach schon als Emigranten bei uns geboren, wenn auch die Mehrzahl von ihnen nie aus Rußland hinausgekommen ist. In den hundertundfünfzig Jahren des verflossenen Lebens unserer russischen Herrenschicht sind – mit sehr wenigen Ausnahmen – die letzten Wurzeln, die diese Schicht in der russischen Erde hatte, vermodert, haben sich ihre letzten Verbindungen mit der russischen Wahrheit gelockert. Herzen ward gleichsam von der Geschichte selbst die Aufgabe zugeteilt, diesen Bruch der ungeheuren Mehrheit unseres gebildeten Standes mit dem Volke in seiner Person wie in einem grellsten Typ darzustellen. In diesem Sinne war er ein historischer Typ. Indem sie sich vom Volke absonderten, verloren sie natürlicherweise auch Gott. Die Unruhigen unter ihnen wurden Atheisten; die Schlaffen und Ruhigen wurden Indifferente. Für das russische Volk empfanden sie einzig und allein Verachtung, bildeten sich aber gleichzeitig ein und glaubten, daß sie es liebten und ihm nur das Beste wünschten. Aber sie liebten es negativ, nämlich indem sie sich statt seiner, wie es wirklich ist, irgendein Idealvolk dachten, das nach ihren Vorstellungen das russische Volk sein sollte. Dieses Idealvolk nahm damals für manche führende Vertreter dieser Mehrheit unwillkürlich die Gestalt des Pariser Pöbels vom Jahre 93 an. Damals war dieser das bezauberndste Ideal eines Volkes. Natürlich mußte Herzen Sozialist werden, und zwar gerade als russischer Junker, d. h. soviel wie ohne jede Not und ohne Ziel, eben nur und einzig aus dem »logischen Fluß der Ideen« und aus der Herzensleere in der Heimat. Er sagte sich von den Grundlagen der bisherigen Gesellschaft los und war dabei, ich glaube, ein guter Vater und Gatte. Er verneinte das Eigentum, doch vorläufig wußte er sein Vermögen sicherzustellen und empfand im Auslande mit Vergnügen seine materielle Unabhängigkeit. Er stiftete Revolutionen an, spornte andere dazu an, und gleichzeitig liebte er Komfort und Ruhe im eigenen Heim. Er war ein Künstler, ein Denker, ein glänzender Schriftsteller, ein außergewöhnlich belesener Mensch, geistreich, schlagfertig, ein bewundernswerter Unterhalter und Gesellschafter (er sprach sogar noch besser, als er schrieb) und ein prachtvoller Reflekteur. Die Reflexion – ich meine damit die Fähigkeit, aus dem eigenen tiefsten Empfinden ein Objekt zu machen, es vor sich hinzustellen, sich anbetend davor zu verbeugen und sich gleich darauf über dasselbe meinetwegen auch lustig zu machen – war in ihm bis zum höchsten Grade entwickelt. Zweifellos war er ein außergewöhnlicher Mensch; aber was immer er war – ob er da seine Aufzeichnungen schrieb oder mit Proudhon eine Zeitschrift herausgab, oder in Paris auf die Barrikaden ging (was er in seinen Aufzeichnungen so launig geschildert hat); ob er litt oder sich freute oder zweifelte, ob er 1863 den Polen den Gefallen tat und jenen Aufruf an die russischen Revolutionäre schrieb, obschon er gleichzeitig den Polen nichts glaubte und sogar wußte, daß sie ihn betrogen, und wußte, daß er mit seinem Aufruf Hunderte dieser unglücklichen jungen Menschen ins Verderben brachte; ob er das alles später in einem seiner letzten Artikel mit unerhörter Naivität selbst eingestand, ohne auch nur zu argwöhnen, in welch ein Licht er sich mit einem solchen Geständnis selbst stellte – immer und überall und in seinem ganzen Leben war und blieb er vor allen Dingen gentilhomme russe et citoyen du monde, schlechthin ein Produkt der früheren Leibeigenschaft, die er haßte und zu der er doch gehörte, nicht nur durch seinen Vater, den Herrn aus der Leibeigenschaftszeit; sondern eben durch die Entzweiung mit dem Heimatboden und dessen Idealen. Bjelinski dagegen, oh, Bjelinski war keineswegs gentilhomme, oh nein. (Er stammte von Gott weiß wem ab. Sein Vater war, wenn ich nicht irre, Militärarzt.Siehe Anhang. E. K. R.)
Bjelinski war eine unreflektierende Natur par excellence, war gerade eine schrankenlos ekstatische Natur, war und blieb das sein ganzes Leben lang. Meine erste Erzählung »Arme Leute« entzückte ihn (später, fast ein Jahr darauf, gingen wir auseinander – aus verschiedenen Gründen, übrigens aus sehr unwichtigen, in jeder Hinsicht). Damals aber, in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft, als er sich gleich mit ganzem Herzen an mich schloß, beeilte er sich sofort, und zwar mit der treuherzigsten Hast, mich zu seinem Glauben zu bekehren. Ich übertreibe seinen glühenden Drang zu mir, wenigstens in den ersten Monaten unserer Bekanntschaft, nicht im geringsten. Ich lernte ihn als leidenschaftlichen Sozialisten kennen und er begann mit mir sogleich vom Atheismus zu sprechen. Darin sehe ich viel – Bezeichnendes, – nämlich seinen erstaunlichen Spürsinn und seine ungewöhnliche Fähigkeit, sich aufs tiefste von einer Idee durchdringen zu lassen. Die Internationale hat ja auch einen ihrer Aufrufe – vor etwa zwei Jahren – unmittelbar mit der bezeichnenden Erklärung begonnen: »... sind vor allem eine atheistisch« Gesellschaft,« d. h. sie begann sogleich mit dem Kern der Sache, mit dem Wesentlichen; damit begann damals auch Bjelinski. Er, der Vernunft, Wissenschaft und Realismus am höchsten schätzte, begriff doch zu gleicher Zeit tiefer als alle anderen, daß Vernunft, Wissenschaft und Realismus allein – bloß einen Ameisenhaufen erschaffen können, nicht aber eine soziale »Harmonie«, in der es dem Menschen möglich wäre sich einzuleben. Er wußte, daß die Grundlage zu allem – sittliche Grundsätze sind. An die neuen sittlichen Grundlagen des Sozialismus (der übrigens bisher noch keine einzige neue aufgewiesen, sondern nur widerliche Entstellungen der Natur und des gesunden Verstandes hervorgebracht hat), glaubte Bjelinski bis zum Wahnsinn und ohne jede Reflexion; das war bei ihm nichts als eine einzige Ekstase. Doch als Sozialist mußte er natürlich als Erstes das Christentum niederwerfen, – er wußte, daß die Revolution unbedingt mit dem Atheismus zu beginnen hatte. Es galt für ihn also, zunächst die Religion niederzureißen, aus der die sittlichen Grundlagen der von ihm bekämpften Gesellschaft hervorgegangen waren. Familie, Eigentum, sittliche Verantwortlichkeit des Einzelnen – alles das wurde von ihm radikal verneint. (Ich bemerke hierzu, daß er gleichfalls ein guter Gatte und Vater war, ganz wie Herzen.) Zweifellos begriff er, daß er, indem er die sittliche Verantwortung der Persönlichkeit verneinte, eben damit auch ihre Freiheit verneinte; aber er glaubte mit seinem ganzen Wesen (viel blinder als Herzen, der, wenn ich nicht irre, zum Schluß zu zweifeln begann), daß der Sozialismus die Freiheit der Persönlichkeit nicht nur nicht zerstöre, sondern, im Gegenteil, diese Freiheit in noch nie dagewesener Großartigkeit wiederherstelle, jedoch auf einer neuen und bereits unerschütterlichen Grundlage.Bjelinski hat 1843 geheiratet. Es ist charakteristisch für die Radikalen und Revolutionäre Bjelinski, Herzen, Tscheruyschewski, wie auch für Dobroljuboff und Pijjareff, sowie für die späteren Lawroff und Michailowski –, daß sie eine überaus hohe und reine Auffassung von der Ehe hatten und auch sonst makellose Charaktere waren. E. K. R.