Aber da gab es nun noch die strahlende Persönlichkeit Christi selbst, gegen die der Kampf am schwersten war. Die Lehre Christi mußte er als Sozialist unbedingt zerstören, sie eine falsche und unwissende Menschenliebe nennen, die von der heutigen Wissenschaft und den heutigen ökonomischen Grundlagen schon verurteilt sei; aber – immerhin – es blieb das lichte Bild des Gottmenschen, seine sittliche Unerreichbarkeit, seine Wunderbare und wunderwirkende Schönheit. Doch Bjelinski blieb in seiner ununterbrochenen, unerlöschlichen Ekstase selbst vor diesem unüberwindlichen Hindernis nicht stehen, wie Renan es noch tut, der in seinem von Unglauben erfüllten Buch »La vie de Jésus« dennoch sagt, daß Christus das Ideal der menschlichen Schönheit sei, eine unerreichbare Gestalt, deren Wiederholung auch in der Zukunft schon nicht mehr möglich wäre.
»... wissen Sie auch,« rief Bjelinski damals an einem Abend mit seiner heiseren Stimme mir zu (er konnte manchmal eigentümlich kreischen, besonders wenn ihn irgend etwas sehr erregte), »wissen Sie auch, daß man dem Menschen nicht seine Sünden anrechnen und ihn mit Schulden und hingehaltenen Backen belasten darf, wenn die Gesellschaft so gemein eingerichtet ist, daß sie es dem Menschen unmöglich macht, keine Übeltaten zu begehen, wenn er ökonomisch zum Verbrechen geführt wird, und daß es sinnlos und grausam ist, vom Menschen etwas zu verlangen, was er schon auf Grund der Naturgesetze nicht erfüllen kann, selbst wenn er es wollte...«
An diesem Abend waren wir nicht allein; einer seiner Freunde, den er überaus achtete und auf dessen Urteil er viel gab, war gleichfalls bei ihm; und außer diesem war noch ein ganz junger Schriftsteller zugegen, der erst später in der Literatur bekannt geworden ist.
»Wissen Sie, ich bin immer ordentlich gerührt, wenn ich ihn so ansehe,« unterbrach plötzlich Bjelinski seinen wütenden Ausbruch, indem er sich zu seinem Freunde wandte und dabei auf mich wies; »jedesmal, wenn ich so wie jetzt von Christus rede, verändert sich immer sein ganzes Gesicht, als wolle er gleich zu weinen anfangen... Aber so glauben Sie mir doch, Sie naiver Mensch,« fiel er wieder über mich her, »so glauben Sie es doch, daß Ihr Christus, wenn er in unserer Zeit geboren wäre, sich als der unauffälligste und gewöhnlichste Mensch erweisen würde; er verschwände nur so angesichts der heutigen Wissenschaft und der heutigen Beweger der Menschheit.«
»N–n–nein, nicht doch!« bemerkte da Bjelinskis Freund. (Ich weiß noch, wir anderen saßen, er aber ging im Zimmer auf und ab.) »N–nein: wenn Christus jetzt erschiene, würde er sich der Bewegung anschließen und an ihre Spitze stellen.«
»... ja, nun ja,« stimmte Bjelinski plötzlich und mit erstaunlicher Eilfertigkeit ihm bei. »Er würde sich gerade den Sozialisten anschließen und ihnen folgen.«
Unter jenen »Bewegern der Menschheit«, denen Christus sich anzuschließen hätte, verstand man damals lauter Franzosen: vor allen anderen George Sand, dann den jetzt vollkommen vergessenen Cabet, Pierre Leroux und Proudhon, der gerade erst bekannt zu werden begann. Diese vier wurden von Bjelinski, soweit mir erinnerlich ist, damals am meisten geachtet. Fourier wurde schon längst nicht mehr so geschätzt. Und dann gab es da noch einen Deutschen, den er in jener Zeit auch sehr verehrte: Feuerbach. (Bjelinski, der in seinem ganzen Leben keine einzige fremde Sprache zu erlernen vermochte, sprach den Namen immer »Fijerbach« aus.) Von Strauß wurde mit Ehrfurcht gesprochen.
Bei einem so warmen Glauben an seine Idee war er natürlich der glücklichste der Menschen. Oh, grundlos hat man später geschrieben, daß Bjelinski, wenn er länger gelebt hätte, zum Slawophilentum übergegangen wäre. Niemals hätte er mit dem Slawophilentum geendet. Bjelinski hätte vielleicht mit der Emigration geendet, wenn er länger gelebt hätte und wenn es ihm gelungen wäre, über die Grenze zu kommen, und würde sich jetzt als kleiner und begeisterter alter Herr mit demselben warmen Glauben, der nicht die geringsten Zweifel zuläßt, irgendwo auf den Kongressen im Deutschland und in der Schweiz herumtreiben, oder sich irgendeiner deutschen Madame GoeggGattin des deutschen, 1848 nach der Schweiz geflohenen revolutionären Politikers, Gründers der internationalen Freiheits- und Friedensliga. als Adjutant anschließen und für irgendeine Frauenfrage den Laufburschen spielen.
Dieser glückselige Mensch, der eine so erstaunliche Gewissensruhe besaß, war übrigens mitunter sehr traurig, doch diese Trauer war von besonderer Art, – nicht eine Folge von Zweifeln, nicht von Enttäuschungen, oh nein, – sondern ihre Ursache war die Frage: warum nicht heute, warum nicht morgen? Er war der ungeduldigste Mensch in ganz Rußland. Einmal traf ich ihn gegen drei Uhr mittags bei der Snamenski-Kirche. Er sagte mir, er sei spazieren gegangen und gehe nun nach Hause.
»... komme oft hierher, um zu sehen, wie der Bau fortschreitet« (der Bau des Bahnhofs der Nikolai-Bahn, die damals erst gebaut wurde). »... erleichtere mir damit wenigstens das Herz, daß ich hier eine Weile stehe und der Arbeit zusehe: endlich wird es auch bei uns wenigstens eine Eisenbahn geben. Sie glauben nicht, wie dieser Gedanke mich manchmal aufatmen läßt!«
Das war heiß und schön gesagt; Bjelinski war nie pathetisch. Wir gingen zusammen weiter. Ich weiß noch, unterwegs sagte er zu mir:
»... erst wenn ich verscharrt sein werde« (er wußte, daß er schwindsüchtig war), »wird man sich besinnen und gewahr werden, wen man verloren hat.«
In seinem letzten Lebensjahr ging ich bereits nicht mehr zu ihm. Er mochte mich nicht mehr; doch ich nahm damals mit Leidenschaft seine ganze Lehre an. Und wieder ein Jahr später, es war in Tobolsk, als wir in Erwartung unseres ferneren Schicksals im Ostrogg saßen, bis man uns von dort weiter transportierte, gelang es den Frauen der Delabristen, den Aufseher des Ostrogg durch Bitten zu bewegen, ihnen eine heimliche Zusammenkunft mit uns in seiner Wohnung zu gestatten. Wir sahen diese großen Märtyrerinnen, die freiwillig mit ihren Männern nach Sibirien gegangen waren. Sie hatten alles hingegeben: Adel, Reichtum, Verbindungen und Verwandte, hatten alles geopfert für die höchste sittliche Pflicht, für die freieste Pflicht, die es überhaupt gibt. Sie, die selbst in nichts schuldig waren, ertrugen in langen fünfundzwanzig Jahren alles, was ihre verurteilten Männer zu ertragen hatten. Unser Zusammensein währte eine Stunde. Sie segneten uns auf den neuen Weg, bekreuzigten uns und schenkten einem jeden das Neue Testament – das einzige Buch, das im Ostrogg erlaubt ist. Vier Jahre lang lag es im Zuchthause unter meinem Kopfkissen. Ich las es manchmal und las auch anderen daraus vor. Nach diesem Buch lehrte ich einen jungen Zuchthäusler lesen. Um mich herum waren dort gerade die Menschen, die nach Bjelinskis Glauben ihre Verbrechen nicht hatten nicht begehen können, die also im Recht und nur unglücklicher als die anderen waren. Ich wußte, daß auch das ganze russische Volk uns »Unglückliche« nannte, und habe diese Benennung selbst unzählige Male von unzähligen Menschen gehört. Aber es war da immer etwas anderes, es war da gar nicht das, wovon Bjelinski sprach und was jetzt zum Beispiel aus manchen Urteilssprüchen unserer Geschworenen hervorklingt. In jenem Worte »Unglückliche«, in jenem Urteilsspruch des Volkes klang ein anderer Gedanke. Vier Jahre Zuchthaus waren eine lange Schule; ich hatte Zeit, mich zu überzeugen...