Eine der zeitgemäßen Fälschungen.
Veröffentlicht im Dezember 1873 in Nr. 50 des »Bürgers« als sechzehnter und letzter Beitrag Dostojewskis unter dem fortlaufenden Titel »Tagebuch eines Schriftstellers«. E. K. R.
Einige unserer Kritiker haben neuerdings bemerkt, daß ich in meinem letzten Roman »... Dämonen« die Geschichte des bekannten Retschajeff-ProzessesDer Bakuninist Retschajeff hatte 1869 in Moskau unter der studierenden Jugend einen Geheimbund gegründet, der unter seiner Leitung alsbald den eigenen Genossen Twanoff ermordete, weil dieser sie alle angeblich zu verraten beabsichtigte. Retschajeff wollte durch dieses Verbrechen die übrigen Mitglieder ganz in seine Macht bekommen und dann seinen »Katechismus der Revolution« verwirklichen. Seine Ideen – »radikale und allgemeine Pandestruktion« unter Verpönung aller Pläne für den zukünftigen Aufbau (vgl. S. 155 seinen Ausspruch vom »Werk der Zerstörung«) – veröffentlichte er in Genf in einem Blatt, das er »Volksgericht« nannte und von dem 1869 und 70 je eine Nummer erschien.
Der Prozeß wegen der Ermordung Iwanoffs (»... Prozeß der Siebenundachtzig«) begann 1871. Im folgenden Jahr wurde Netschajeff von der Schweiz als gemeiner Verbrecher ausgeliefert und 1873 zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Er starb 1882 in der Peter-Pauls-Festung. – Inwieweit Dostojewski in seinem Roman »... Dämonen«, der 1870 begonnen, 1871-1872 veröffentlicht worden ist, den Fall Netschajeff als Vorlage benutzt hat, geht annähernd aus diesem Artikel hervor. Ob Dostojewski schon in den vierziger Jahren von Speschnjoffs »Entwurf« (vgl. S. 82) gehört hat, muß dahingestellt bleiben; jedenfalls lagen diese Ideen schon in der Luft. Dostojewskis Freund, W. Sfolowjoff, nennt ihn gelegentlich einen »Propheten«, der nicht nur die Idee Rastolnikoffs, sondern auch den Prozeß Netschajeff »in den ›Dämonen‹ bereits vorweggenommen hat«. Der Roman »Raskolnikoff« war im Druck, jedoch noch nicht erschienen, als in Moskau gleichfalls von einem Studenten und in Paris aus denselben Gründen ein Mord verübt wurde. E.K.R. benutzt hatte; doch gleichzeitig stellen sie fest, daß eigentliche Porträts oder eine buchstäbliche Verwendung des Falles Netschajeff in meinem Roman nicht enthalten sei; es sei bloß die Erscheinung an sich genommen und ich hätte nur versucht, die Möglichkeit einer solchen in unserer Gesellschaft zu erklären, und zwar schon im Sinne einer gesellschaftlichen Erscheinung, nicht im Sinne einer zufälligen Begebenheit, also sei es nicht eine Darstellung des Moskauer speziellen Falles. Alles dies ist, das sage ich von mir aus, vollkommen richtig. Auf die Person des bekannten Netschajeff wie auf die seines Opfers Iwanoff habe ich in meinem Roman keinen Bezug genommen. Die Gestalt meines Netschajeff gleicht natürlich keineswegs dem wirklichen Netschajeff. Ich wollte nur die Frage aufstellen und dann in der Form eines Romans eine möglichst klare Antwort auf die Frage geben: wie in unserer, in einem Übergangszustande befindlichen und wunderlichen Gesellschaft nicht speziell dieser eine Netschajeff möglich war, sondern wie überhaupt Netschajeffs in ihr möglich sind und auf welche Weise es geschehen kann, daß diese Netschajeffs schließlich Netschajewzen um sich zu sammeln vermögen?
Nun habe ich unlängst – übrigens ist es doch schon einen Monat her – in der »Russischen Welt« folgende merkwürdige Zeilen gelesen:
»... Der Prozeß Netschajeff hat, wie uns scheint, einen jeden überzeugen können, daß die studierende Jugend bei uns in ähnliche Verrücktheiten nicht verwickelt zu sein pflegt. Ein idiotischer Fanatiker von der Art Netschajeffs konnte seine Proselyten nur unter der müßigen, unreifen und keineswegs studierenden Jugend finden.«
Und weiter:
»... um so mehr, als noch vor ein paar Tagen der Minister der Volksaufklärung erklärt hat (in Kiew), er könne nach der Besichtigung der Unterrichtsanstalten in sieben Kreisen nur sagen, daß › in den letzten Jahren die Jugend sich unvergleichlich ernster zur Wissenschaft verhalte, viel mehr und unvergleichlich gründlicher arbeite, als früher‹.«
An und für sich sind ja diese Zeilen, d.h. wenn man sie unbezüglich nimmt, ziemlich nichtssagend (ich hoffe, der Verfasser wird mich entschuldigen). Aber sie sind eine Ausrede und enthalten eine alte, schon so zuwider gewordene Lüge. Der ganze Grundgedanke besteht darin, daß, wenn bei uns manchmal auch Netschajeffs auftauchen, diese doch unbedingt alle nur Idioten und Fanatiker seien; und wenn es ihnen auch gelinge, Proselyten zu machen, so geschehe das unbedingt »nur unter der müßigen, unreifen und keineswegs studierenden Jugend«. Ich weiß nicht, was der Verfasser dieses kleinen Artikels mit dieser Ausrede eigentlich hat beweisen wollen: vielleicht wollte er der studierenden Jugend schmeicheln? Oder wollte er, im Gegenteil, mittels eines schlauen Manövers und sozusagen in der Form einer Schmeichelei die Jugend ein wenig überlisten, jedoch nur mit den achtbarsten Absichten, nämlich nur zu ihrem eigenen Besten, und da hat er es denn, um den Zweck zu erreichen, mit einem Mittel versucht, das Gouvernanten und Kinderfrauen ihren kleinen Pfleglingen gegenüber anzuwenden pflegen: »Seht, meine lieben Kinderchen, was jene dort für ungezogene Rangen sind, wie sie schreien und wie sie sich prügeln, und sicher werden sie dafür Ruten bekommen, daß sie so ›unreif‹ sind; ihr aber seid so liebe, artige Kinderchen, sitzt bei Tische hübsch gerade, schlenkert nicht mit den Beinchen unter dem Tisch, und dafür werdet ihr auch bestimmt etwas Schönes bekommen«. Oder vielleicht hat der Verfasser unsere studierende Jugend vor der Regierung »verteidigen« und zu dem Zweck einen Kunstgriff anwenden wollen, den er vielleicht selber für ungemein schlau und fein hält?
Doch ich sage offen: obschon ich alle diese Fragen gestellt habe, erwecken die persönlichen Absichten des Verfassers doch nicht das geringste Interesse in mir. Und ich füge sogar hinzu, um die Entschuldigung gleich abzutun, daß ich geneigt bin, die Lüge und die alte faule Ausrede, die in jenem Artikel zum Ausdruck kommen, im vorliegenden Fall für etwas Unbeabsichtigtes und Zufälliges zu halten, d. h. ich glaube, daß der Verfasser sich selbst von seinen Worten hat überzeugen lassen und sie für wahr hält – mit jenem höheren Biedersinn, der so löblich und in jedem anderen Fall durch seine Harmlosigkeit sogar rührend ist. Doch abgesehen davon, daß eine Lüge, die für Wahrheit gehalten wird, immer die gefährlichste Lüge ist (selbst dann, wenn sie in der »Russischen Welt«Unbedeutende liberale Zeitschrift. E. K. R. erscheint), – es fällt einem außerdem sofort auch dies auf, daß sie noch nie in so nackter, bestimmter und ungeprüfter Gestalt aufgetreten ist, wie in diesem kleinen Artikel. In der Tat, man sagt ja auch: zwinge einen anderen Menschen zum Beten und er schlägt sich die Stirn ein.Bei der Berührung des Fußbodens mit der Stirn während des Gebets, – dem Sinne nach eine Redensart wie »blinder Eifer schadet nur«. E. K. R. Gerade in dieser Gestalt aber ist die Lüge interessant zu untersuchen und nach Möglichkeit aufzudecken. Hinzu kommt, daß man doch nicht weiß, wie lange man wird warten müssen, bis man wieder einmal auf eine so ungeprüfte Aufrichtigkeit stoßt!