Alte Erinnerungen.
Veröffentlicht 1877 in der Januar-Nummer der Monatshefte »Tagebuch eines Schriftstellers«. E.K.R.
Im Januar-Heft der »Vaterländischen Annalen« habe ich »... letzten Lieder« von NjekrassoffSiehe S. 62 Anm. E.K.R. gelesen. Leidenschaftliche Lieder und nicht zu Ende gesprochene Worte, wie immer bei Njekrassoff, aber dazwischen – was für ein qualvolles Aufstöhnen eines Kranken! – Unser Dichter ist augenblicklich sehr krank und weiß, wie er mir selbst sagte, über seinen Zustand ganz genau Bescheid. Aber ich will's nicht glauben... Es ist ein starker, widerstandsfähiger Organismus. Er leidet furchtbar (er hat irgendein Geschwür im Eingeweide, eine Krankheit, die sich schwer auch nur feststellen läßt), doch ich glaube nicht, daß er nicht bis zum Frühling durchhalten kann, dann aber – so schnell wie möglich in ein Heilbad ins Ausland, in ein anderes Klima, und er wird wieder gesund werden, davon bin ich überzeugt.
Es geht manchmal eigentümlich zu mit den Menschen; wir haben einander nicht oft im Leben gesehen, es hat zwischen uns auch Mißverständnisse gegeben, doch einmal hat sich mit uns etwas ereignet, und dieses Erlebnis habe ich ihm nie vergessen können. Das war unsere erste Begegnung im Leben. Und als ich ihn nun kürzlich besuchte, begann er, der Kranke, Erschöpfte, gleich nach dem ersten Wort davon zu sprechen, daß er sich jener Tage erinnere. Damals (das war vor dreißig Jahren!), geschah etwas so Jugendliches, Frisches, Gutes, – es war eines jener Ereignisse, die im Herzen der Beteiligten ewig unvergeßlich fortleben. Wir waren damals zwanzig und einige Jahre alt. Ich lebte in Petersburg, nachdem ich schon ein Jahr vorher meinen Abschied als Ingenieur genommen hatte, ohne selbst zu wissen warum, mit den unklarsten und unbestimmtesten Zielen vor mir. Es war im Maimonat, im Jahre fünfundvierzig. Zu Anfang des Winters hatte ich plötzlich meine Erzählung »Arme Leute« zu schreiben begonnen, meine erste Arbeit, denn bis dahin hatte ich noch nichts geschrieben. Als die Arbeit beendet war, wußte ich nicht, was ich nun tun und wem ich sie geben sollte. Literarische Bekanntschaften hatte ich überhaupt nicht, außer allenfalls D. W. Grigorowitsch, aber der hatte damals selbst noch nichts geschrieben, nur eine kleine Skizze »Petersburger Leiermänner«, die in einem Almanach erschienen war. Ich glaube, er war damals im Begriff, für den Sommer zu den Seinen aufs Land zu fahren und wohnte noch einige Zeit bei Njekrassoff. Als er einmal bei mir war, sagte er: »Bringen Sie doch Ihr Manuskript mit« (er hatte es selbst noch nicht gelesen): »Njekrassoff will zum nächsten Jahr einen Sammelband herausgeben, ich werde es ihm zeigen«. Ich brachte ihm das Manuskript, sah Njekrassoff einen Augenblick, wir reichten einander die Hand. Ich wurde verlegen bei dem Gedanken, daß ich mit meiner Dichtung gekommen war, und ging so schnell wie möglich fort, fast ohne mit Njekrassoff ein Wort gesprochen zu haben. Ich dachte kaum an einen Erfolg, vor dieser »Partei der Vaterländischen Annalen« aber – so nannte man sie damals fürchtete ich mich. Bjelinski las ich zwar schon seit ein paar Jahren mit Entzücken, doch er erschien mir drohend und furchtbar und – »verspotten wird er meine ›Armen Leute‹!« hatte ich hin und wieder bei mir gedacht. Jedoch nur hin und wieder: denn geschrieben hatte ich sie mit Leidenschaft, ja fast unter Tränen. »Sollte nun wirklich alles das, sollten alle diese Stunden, die ich mit der Feder in der Hand über dieser Erzählung durchlebt habe, – sollte das wirklich alles Lüge, Einbildung, unwahres Gefühl gewesen sein?« Aber so dachte ich natürlich nur in kurzen Augenblicken, denn das Mißtrauen und die Zweifel waren stets gleich wieder da. Am Abend desselben Tages, an dem ich das Manuskript abgegeben hatte, ging ich zu einem weitab wohnenden ehemaligen Kameraden; wir sprachen die ganze Nacht über die »Toten Seelen« und lasen sie, ich weiß nicht zum wievielten Mal. Damals war das so gang und gäbe unter den jungen Leuten: kamen zwei oder drei zusammen, hieß es bald: »Wollen wir nicht etwas im Gogol lesen, meine Herrschaften?« und man setzte sich und las, und zwar meist gleich die ganze Nacht durch. Damals gab es unter den jungen Leuten sehr, sehr viele, die gleichsam von irgend etwas durchdrungen waren, und es war, als erwarteten sie alle irgend etwas. Erst gegen vier Uhr kehrte ich nach Hause zurück, in einer weißen, fast taghellen Petersburger Nacht. Es war wunderbar warmes Wetter, und als ich in meine Wohnung kam, legte ich mich nicht schlafen, sondern öffnete das Fenster und setzte mich dort am offenen Fenster hin. Plötzlich klingelt es – ich wunderte mich nicht wenig. Doch da stürzen schon Grigorowitsch und Njekrassoff herein, fallen über mich her, umarmen mich mit wahrer Begeisterung und es fehlt nicht viel, daß sie beide in Tränen ausbrechen. Sie waren am Abend zeitig heimgekehrt, hatten mein Manuskript in die Hand genommen und zu lesen angefangen, nur so zur Probe: »nach zehn Seiten wird man schon sehen«. Doch nachdem sie zehn Seiten gelesen hatten, beschlossen sie, weitere zehn zu lesen, dann aber lasen sie schon ohne Unterbrechung die ganze Nacht durch bis zum Morgen, laut und sich gegenseitig ablösend, wenn der eine ermüdete. »Er liest da vom Tode des Studenten,« erzählte mir Grigorowitsch später, als wir allein waren, »... da, an der Stelle, wo der Vater dem Sarge nachläuft, merke ich, Njekrassoffs Stimme schwankt, einmal, das zweitemal, und plötzlich hält er's nicht aus und schlägt mit der flachen Hand aufs Manuskript: ›Ach, daß ihn doch!‹ – damit meinte er Sie, und so ging's die ganze Nacht!« Als sie zu Ende gelesen hatten (sieben Druckbogen!), beschlossen sie einstimmig, sofort mich aufzusuchen: »... tut's, daß er schläft, wir wecken ihn auf, das ist höher als Schlaf!« – Später, als ich den Charakter Njekrassoffs schon kannte, habe ich mich oft über jene Stunde gewundert: er ist doch von Natur ein verschlossener, fast mißtrauischer Mensch, vorsichtig, wenig mitteilsam. So wenigstens ist er mir immer erschienen, und danach zu urteilen, muß jener Augenblick unserer ersten Begegnung in Wahrheit der Durchbruch eines tiefsten Gefühls gewesen sein. Sie blieben damals ungefähr eine halbe Stunde bei mir, und in dieser halben Stunde sprachen wir Gott weiß was alles durch, verstanden einander schon nach halben Worten, uns überstürzend, sprachen mehr in Ausrufen als in Sätzen, hastend: sprachen auch von der Dichtkunst, auch von der Wahrheit, auch von der »damaligen Lage«, natürlich auch von Gogol, zitierten aus seinem »Revisor« und aus den »Toten Seelen«, aber das wichtigste war Bjelinski. »... bringe ihm noch heute Ihr Manuskript und Sie werden sehen – das ist ein Mensch, wenn Sie wüßten, was das für ein Mensch ist! Sie werden ihn ja kennen lernen, dann werden Sie selbst sehen, was das für eine Seele ist!« sagte Njekrassoff, der mich mit beiden Händen an den Schultern hielt und schüttelte, einfach mit Begeisterung. »... aber jetzt schlafen Sie, schlafen Sie, wir gehen schon, morgen aber sofort zu uns!« – Als ob ich danach hätte schlafen können! Welch ein Entzücken das war, – solch ein Erfolg! Doch vor allem – das Gefühl war mir teuer, ich weiß noch genau: »... anderer hat Erfolg, nun, man lobt ihn, begegnet ihm, man beglückwünscht; aber die hier kamen doch mit Tränen in den Augen hergelaufen, um vier Uhr morgens, um mich aufzuwecken, denn das ist höher als Schlaf!... Ach, – wie ist das schön!« Das war es, was ich damals dachte, wo hätte ich da schlafen können!