Njekrassoff brachte das Manuskript noch am selben Tage zu Bjelinski. Er verehrte Bjelinski über alle Maßen und ich glaube, er hat ihn sein Leben lang von allen am meisten geliebt. Damals hatte Njekrassoff noch nichts von solcher Bedeutung geschrieben, wie es ihm erst bald darauf, im folgenden Jahre, gelang. Soviel ich weiß, war Njekrasfoff als Sechzehnjähriger nach Petersburg gekommen, ganz allein. Und geschrieben hatte er fast auch schon seit seinem sechzehnten Lebensjahre, über seine Bekanntschaft mit Bjelinski weiß ich nicht viel, aber Bjelinski hat ihn sofort, schon beim ersten Anfang richtig eingeschätzt und die Stimmung seiner ganzen Kunst vielleicht stark beeinflußt. Sicherlich hatte es zwischen ihnen bereits damals, trotz der Jugend Njekrassoffs und ihres Altersunterschiedes, schon Augenblicke gegeben und waren schon Worte gefallen, die fürs ganze Leben beeinflussen und untrennbar verbinden.
»... neuer Gogol ist erschienen!« rief Njekraffoff laut, als er mit meinen ›Armen Leuten‹ bei Vjelinski eintrat. »... Euch wachsen ja die Gogols wie die Pilze,« bemerkte Bjelinski in strengem Ton, aber er nahm doch das Manuskript. Als Njekrassoff am Abend wieder zu ihm kam, empfing Bjelinski ihn ›einfach in Aufregung‹: »Bringen Sie ihn mir, bringen Sie ihn so schnell wie möglich her!«
Und da brachten sie mich denn (das war also schon am dritten Tage) zu ihm. Ich weiß noch, daß mich auf den ersten Blick sein Äußeres sehr frappierte, seine Nase, seine Stirn; ich hatte ihn mir, ich weiß nicht warum, ganz anders vorgestellt, ›diesen furchtbaren, diesen schrecklichen Kritiker.‹ Er empfing mich ungeheuer ernst und zurückhaltend. »... was, vielleicht ist das gerade das Richtige,« dachte ich, aber es verging, ich glaube, noch nicht einmal eine Minute und schon verwandelte sich alles: der Ernst war nicht die vorbedachte Haltung einer berühmten Persönlichkeit, eines großen Kritikers, der einen zweiundzwanzigjährigen Neuling empfing, sondern dieser Ernst entsprang sozusagen seiner Achtung vor jenen Gefühlen, die er so schnell wie möglich in mich ergießen wollte, vor jenen schweren Worten, die mir zu sagen er sich selbst hetzte. Er begann flammend zu sprechen, sah mich mit glühenden Augen an: »... begreifen Sie denn überhaupt selbst,« wiederholte er mehrere Male, nach seiner Gewohnheit stoßweise schreiend, »... Sie da geschrieben haben!« Er schrie immer so, wenn er mit starkem Gefühl sprach. »... haben nur mit unmittelbarem Instinkt, nur als Künstler das schreiben können, aber haben Sie das alles auch mit dem Verstande erfaßt, diese ganze furchtbare Wahrheit, auf die Sie uns hinweisen? Es ist nicht möglich, daß Sie mit Ihren zwanzig Jahren das schon begriffen hätten. Ja dieser unglückliche Beamte, den Sie da gezeichnet haben, – der ist doch durch das ewige Dienen schon dahin gekommen –, hat sich ja selber schon dahin gebracht, daß er sich vor lauter Unterwerfung nicht einmal mehr für unglücklich zu halten wagt und auch die geringste Klage fast schon für Freidenkerei ansieht, ja, der sich sogar das Recht, sich unglücklich zu fühlen, nicht einmal mehr zuzusprechen wagt, und als ihm ein guter Mensch, sein General, jene 100 Rubel gibt – da ist er zermalmt, vernichtet vor Verwunderung, daß einen solchen Menschen wie er ›Ihre Exzellenz‹ haben bemitleiden können, nicht ›Seine Exzellenz‹, sondern ›Ihre Exzellenz‹, wie er sich bei Ihnen ausdrückt! Und dieser abgerissene Knopf, dieser Augenblick, wo er dem General die Hand küßt, – ja da ist doch nicht mehr Mitleid mit diesem Unglücklichen, sondern Grauen, Grauen! Gerade in dieser seiner Dankbarkeit liegt das Grauen! Das ist eine Tragödie! Sie haben hier das Wesen der Sache, den Kern selbst berührt, das Allerwichtigste mit einem Blick gezeigt. Wir Publizisten und Kritiker, wir deuteln bloß, wir bemühen uns, mit Worten das klar zu machen, Sie aber, der Künstler, Sie stellen mit einem einzigen Zug sofort bildlich greifbar das Wesen selbst der Sache hin, daß man es mit der Hand befühlen kann, daß auch einem Leser, der überhaupt nicht zu denken gewohnt ist, alles sofort verständlich ist! Das ist das Geheimnis des Künstlertums, das ist die Wahrheit in der Kunst! Da steht der Künstler im Dienst der Wahrhaftigkeit! Ihnen ist die Wahrheit offenbart und kund, als einem Künstler, Sie haben das als eine Gabe mitbekommen, schätzen Sie nun Ihre Gabe, bleiben Sie treu, und Sie werden ein großer Künstler sein!«
Alles das sagte er damals zu mir. Alles das sagte er später über mich auch vielen anderen, die heute noch leben und es bezeugen können. Ich verließ ihn wie in einem Rausch. Ich blieb an der Ecke seines Hauses stehen, sah den Himmel über mir, sah den hellen Tag, sah die vorübergehenden Menschen an und fühlte voll und ganz, empfand mit meinem ganzen Wesen, daß in meinem Leben ein feierlicher Augenblick eingetreten war, eine Scheidung für immer, daß etwas ganz Neues begann, jedoch etwas, das ich auch in meinen leidenschaftlichsten Träumen nicht gedacht hatte. (Und ich war damals ein schrecklicher Träumer.) »Sollte es wahr sein, bin ich denn wirklich so groß?« dachte ich schamhaft in einer Art schüchterner Entzückung. Oh, lachen Sie nicht, nachher habe ich niemals mehr gedacht, daß ich groß sei, doch damals – könnte man denn das so ertragen! »... ich will dieses Lobes würdig werden! Und was für Menschen das sind, was für Menschen! Ja, das sind Menschen! Ich werde mir dieses Lob verdienen, ich werde mir Mühe geben, auch ein so wunderbarer Mensch zu werden wie sie, ich werde ›treu bleiben‹! Oh, wie bin ich noch leichtsinnig, und wenn Bjelinski nur erführe, was für nichtsnutzige, schändliche Dinge in mir sind! Und dabei reden die Leute immer davon, daß diese Literaten stolz seien, eigenliebig und ehrgeizig, übrigens, es gibt ja überhaupt nur diese Menschen in Rußland, nur sie allein zählen. – Sie stehen zwar allein, doch nur bei ihnen ist Wahrhaftigkeit, diese aber und das Gute und Wahre siegen und triumphieren immer über das Laster und das Böse, also werden wir siegen! – Oh, zu ihnen, mit ihnen!«
Alles das dachte ich damals, ich erinnere mich jenes Augenblicks noch mit der größten Klarheit. Und ich habe ihn später niemals vergessen können. Es war das der berauschendste Augenblick meines ganzen Lebens. Wenn er mir in der sibirischen Katorga einfiel, richtete er mich geistig wieder auf. Noch jetzt denke ich jedesmal mit Entzücken daran zurück. Und nun kürzlich, nachdem dreißig Jahre darüber vergangen sind, hat sich mir dieser ganze Augenblick gleichsam wieder vergegenwärtigt, als ich am Bette des kranken Njekrassoff saß: es war mir, als erlebte ich alles das von neuem. Ich erinnerte ihn nicht ausführlich an das Gewesene, ich erwähnte nur, daß wir einmal etwas gemeinsam erlebt hatten, und da sah ich, wie er sich dessen auch ohne meine Erwähnung erinnerte. Eigentlich wußte ich das schon. Als ich aus der Katorga zurückgekehrt war, hatte er auf eines seiner Gedichte hingewiesen, in einem Bande: »... habe ich damals auf Sie gedichtet.« Und doch haben wir das ganze Leben getrennt verbracht. Auf seinem Schmerzenslager gedenkt er jetzt in seinen ›letzten Liedern‹ der schon toten Freunde:
Ein schweres Wort ist hier dieses »vorwurfsvoll«. Sind wir denn »treu« geblieben, sind wir es geblieben? Möge das ein jeder nach eigenem Wissen und Gewissen selbst entscheiden...