Wie es sich ergab, sollte ich Mordecai nach diesem Essen beinahe drei Wochen lang nicht mehr sehen. Ich erinnere mich nicht mehr an den Grund dafür, aber ich vermute, daß wir damals abwechselnd nicht in der Stadt waren.
Jedenfalls kam ich eines morgens aus einem Cafe, in dem ich mir gelegentlich ein Brötchen mit Rührei genehmige, als ich Mordecai etwa einen halben Häuserblock entfernt an der Straßenecke stehen sah.
Es war ein furchtbarer Tag voller Schneeregen - ein Tag, an dem leere Taxis auf dich zurasen, nur um dir eine Ladung dunkelgrauen Schneematsch über die Hosenbeine zu spritzen, während sie an dir vorbeidonnern und ihr Taxischild ausschalten.
Mordecai stand mit dem Rücken zu mir und hob gerade die Hand, als auch schon ein leeres Taxi vorsichtig auf ihn zugefahren kam. Doch zu meiner Verwunderung wandte Mordecai sich ab. Das Taxi zögerte einen Moment, dann fuhr es langsam davon - die Enttäuschung stand ihm förmlich auf die Windschutzscheibe geschrieben.
Mordecai hob erneut die Hand, und aus dem Nichts tauchte ein zweites Taxi auf und hielt vor ihm an. Er stieg ein, doch selbst aus vierhundert Metern Entfernung konnte ich noch hören, wie er eine Salve von Kraftausdrücken abfeuerte, die für die Ohren wohlerzogener Menschen nicht geeignet sind, vorausgesetzt es gibt in dieser Stadt noch solche Menschen.
Ich rief ihn am selben Vormittag an und verabredete mich mit ihm auf einen Cocktail in einer netten Bar, die wir beide kannten und in der den ganzen Tag lang eine Happy Hour auf die nächste folgt. Ich konnte es kaum erwarten, ich mußte einfach eine Erklärung von ihm haben.
Vor allem wollte ich wissen, was die Kraftausdrücke bedeuten sollten, mit denen er den Taxifahrer bedacht hatte. - Nein, mein alter Freund, ich meine nicht die Bedeutung, die im Wörterbuch steht, wenn man sie überhaupt in einem Wörterbuch findet. Ich meinte, warum er diese Worte benutzt hat. Schließlich hätte er über alle Maßen glücklich sein müssen.
Als er die Bar betrat, sah er jedenfalls nicht sonderlich glücklich aus. Er machte sogar einen ziemlich abgehärmten Eindruck.
Er sagte: »Gib doch bitte mal der Kellnerin ein Zeichen, George.«
Wir befanden uns in einer jener Bars, in der sich die Kellnerinnen nicht allzu warm anziehen, und das wiederum hielt mich warm. Es war mir eine Freude, einer von ihnen ein Zeichen zu geben, obwohl ich wußte, daß sie meine Gesten lediglich als Bestellung eines neuen Getränkes deuten würde.
In Wirklichkeit geschah nichts dergleichen, denn sie ignorierte mich, indem sie mir ihren überaus nackten Rücken zugewandt hielt.
Ich sagte: »Tja, Mordecai, wenn du etwas bestellen willst, dann mußt du schon selber winken. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit haben sich meiner noch nicht erbarmt. Und das ist eine Schande, denn es wird langsam Zeit, daß mein reicher Onkel stirbt und seinen Sohn zu meinen Gunsten enterbt.«
»Du hast einen reichen Onkel?« fragte Mordecai mit einem Hauch von Interesse.
»Nein! Und das macht die ganze Sache noch ungerechter. Gib doch bitte der Kellnerin ein Zeichen, Mordecai.«
»Zum Teufel damit«, sagte Mordecai mürrisch. »Laß sie warten.«
Natürlich kümmerte es mich nicht, daß sie wartete, aber meine Neugier war stärker als mein Durst.
»Mordecai«, sagte ich, »du machst einen unglücklichen Eindruck. Übrigens habe ich dich heute morgen gesehen, auch wenn es dir nicht aufgefallen ist. Du hast ein leeres Taxi ignoriert, an einem Tag, an dem man sie in Gold aufwiegen kann, und dann hast du lauthals geflucht, als du in das nächste eingestiegen bist.«
Mordecai sagte: »Tatsächlich? Nun, ich habe die Nase voll von diesen Dreckskarren. Taxis verfolgen mich. Sie fahren in langen Schlangen hinter mir her. Sobald ich auch nur einen Blick auf die Straße werfe, hält eines von ihnen an. Ich werde von Schwärmen von Kellnern bedrängt. Ladenbesitzer öffnen geschlossene Läden, wenn ich in ihre Nähe komme. Sobald ich ein Gebäude betrete, reißt jeder Fahrstuhl seine Türen weit auf, und auf jedem Stockwerk wartet einer beharrlich auf mich. In jedem nur denkbaren Büro werde ich auf der Stelle von Horden lächelnder Empfangsdamen durch das Vorzimmer gewunken. Niedere Funktionäre auf jeder Regierungsebene betrachten es als ihre Lebensaufgabe ...«
Endlich hatte ich mich wieder gefangen. »Aber Mordecai«, sagte ich, »was für ein unerhörtes Glück. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit .«
Sein Vorschlag, was ich mit den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit tun sollte, war natürlich vollkommen undurchführbar, da es sich dabei um abstrakte Ideen handelt, die keine Körperteile besitzen.
»Aber Mordecai«, protestierte ich, »all das verschafft dir doch mehr Zeit zum Schreiben.«
»Eben nicht«, widersprach Mordecai energisch. »Ich kann überhaupt nicht mehr schreiben.«
»Warum denn nicht, um Himmels willen?«
»Weil ich keine Zeit mehr zum Nachdenken habe.«
»Was hast du nicht mehr?« fragte ich leise.
»All diese Warterei - in Schlangen, an Straßenecken, in Bürovorzimmern - habe ich genutzt, um nachzudenken, um mir zu überlegen, was ich schreiben will. Das war für mich die wichtigste Vorbereitungszeit.«
»Das habe ich nicht gewußt.«
»Ich auch nicht, aber jetzt weiß ich es.«
»Ich dachte, du verbringst diese Wartezeit damit, wütend vor dich hinzufluchen und dir die Haare zu raufen.«
»Zum Teil schon. In der restlichen Zeit habe ich nachgedacht. Und selbst die Zeit, die ich damit verbracht habe, über die Ungerechtigkeit des Universums zu schimpfen, war nicht vertan, denn sie hat mich auf Touren gebracht, bis mir die Hormone in den Adern brodelten. Und wenn ich mich dann endlich an meine Schreibmaschine setzen konnte, brachen all diese Ärgernisse aus mir heraus, und meine Finger hämmerten nur so auf die Tastatur ein. Die Gedanken, die ich mir gemacht hatte, lieferten mir die geistige Inspiration und mein Ärger die emotionale. Zusammen ergaben sie seitenweise hervorragender Texte, die aus den dunklen Höllenfeuern meiner Seele strömten. Und was ist mir davon geblieben? Schau doch!«
Er schnipste leise mit Daumen und Mittelfinger, und auf der Stelle war eine herrlich unbekleidete Dame zur Stelle und fragte: »Kann ich etwas für Sie tun?«
Natürlich konnte sie das, aber Mordecai bestellte einfach nur zwei Drinks für uns.
»Ich dachte«, sagte er, »ich müßte mich nur erst an die neue Situation gewöhnen, aber ich weiß jetzt, daß das unmöglich ist.«
»Du kannst dich einfach weigern, von der Situation Gebrauch zu machen.«
»Wirklich? Du hast mich heute morgen gesehen. Wenn ich ein Taxi ablehne, ist das nächste sofort zur Stelle. Ich kann das fünfzig Mal tun, und es wird noch ein einundfünfzigstes Taxi vor mir anhalten. Die machen mich fertig.«
»Nun, warum kannst du dich dann nicht einfach jeden Tag ein oder zwei Stunden gemütlich in dein Büro setzen und nachdenken?«
»Gemütlich in meinem Büro? Das ist es ja gerade! Ich kann nur nachdenken, wenn ich an einer Straßenecke von einem Fuß auf den anderen trete oder in einem zugigen Warteraum auf einem steinharten Stuhl sitze oder mit hungrigem Magen in einem Restaurant ohne einen Kellner weit und breit. Ich brauche die Energie der Empörung.«
»Aber bist du jetzt nicht auch empört?«
»Das ist nicht das gleiche. Man kann sich über eine Ungerechtigkeit aufregen, aber wie soll man sich darüber ärgern, daß alle so überaus nett und rücksichtsvoll sind -diese gefühllosen Scheusale! Im Augenblick bin ich nicht empört, ich bin lediglich traurig, und wenn ich traurig bin, kann ich nicht schreiben.«