Zudem hatte es keinen Sinn, Septimus über die neue Situation aufzuklären - er hätte mir sowieso nicht geglaubt. Womöglich wäre er zu der lächerlichen Schlußfolgerung gelangt, daß ich - ich - betrunken sei.
Doch das Schicksal meinte es gut mit mir. Ende November befand ich mich gerade in Septimus' Landhaus - zum Abschied von der Saison, wie er es nannte -, als eine große Menge Schnee fiel, ungewöhnlich viel für diese Jahreszeit.
Septimus fluchte laut und erklärte dem Universum den Krieg, weil es ihm diese infame Beleidigung nicht erspart hatte.
Für mich waren jedoch himmlische Zeiten angebrochen - und für ihn ebenfalls, auch wenn er es noch nicht wußte. Ich sagte: »Keine Angst, Septimus. Jetzt ist die Gelegenheit gekommen, um festzustellen, daß Schnee dir nichts anhaben kann.« Ich erklärte ihm die Situation in allen Einzelheiten.
Es war wohl zu erwarten gewesen, daß er zunächst äußerst ungläubig reagieren würde, aber er ließ sich darüber hinaus noch zu einigen vollkommen unnötige Bemerkungen über meinen Geisteszustand hinreißen.
Ich hatte jedoch monatelang Zeit gehabt, um mir etwas zurechtzulegen, also sagte ich: »Du hast dich vielleicht schon gefragt, wie ich meinen Lebensunterhalt verdiene, Septimus. Meine Zurückhaltung in dieser Hinsicht wird dich nicht mehr verwundern, wenn ich dir erzähle, daß ich eine Schlüsselfigur in einem Forschungsprogramm der Regierung über Antigravitation bin. Ich kann dir nicht mehr verraten, als daß du Teil eines überaus wichtigen Experiments bist und dieses Programm damit wesentlich voranbringst. Das ist von erheblicher Bedeutung für die nationale Sicherheit.«
Er starrte mich mit großen, erstaunten Augen an, während ich leise ein paar Töne der amerikanischen Nationalhymne summte.
»Ist das dein Ernst?« fragte er.
»Würde ich dich belügen?« gab ich zurück. Und dann, auch auf die Gefahr einer Erwiderung hin, fügte ich hinzu: »Würde die CIA dich belügen?«
Er kaufte es mir ab, überwältigt von der schlichten Aufrichtigkeit, die all meine Sätze durchdringt.
»Was soll ich machen?« fragte er.
Ich erwiderte: »Der Boden ist mit nur fünfzehn Zentimetern Schnee bedeckt. Stell dir vor, daß du nichts wiegst, und dann geh einen Schritt vor die Tür.«
»Ich muß es mir einfach nur vorstellen?«
»Genau so funktioniert es.«
»Ich werde nasse Füße bekommen.«
Ich erwiderte sarkastisch: »Dann zieh deine hohen Stiefel an.«
Er zögerte, holte dann tatsächlich seine hohen Stiefel hervor und stieg hinein. Dieser deutliche Beweis dafür, daß er meinen Ausführungen nur bedingt Glauben schenkte, verletzte mich tief. Außerdem zog er sich einen Pelzmantel über und setzte eine noch pelzigere Kappe auf.
»Wenn du dann bereit wärst -«, sagte ich kühl.
»Keineswegs«, erwiderte er.
Ich öffnete die Tür, und er trat hinaus. Auf der überdachten Veranda lag kein Schnee, aber sobald er seine Füße auf die Treppe setzte, schienen sie unter ihm wegzugleiten. Er klammerte sich verzweifelt an der Balustrade fest.
Irgendwie hatte er die unterste Stute der kurzen Treppe erreicht und versuchte, sich aufzurichten. Es funktionierte nicht, zumindest nicht so, wie er es beabsichtigt hatte. Mit wild rudernden Armen schlitterte er einige Schritt weit davon und konnte sich dann nicht mehr auf den Füßen halten. Er landete auf dem Rücken und rutschte weiter, bis er an einem jungen Baum vorbeikam und sich mit einem Arm an seinem Stamm festhielt. Er glitt noch drei oder vier Mal um den Baum herum, ehe er zum Stillstand kam.
»Was ist denn das für ein rutschiger Schnee?« rief er, und seine Stimme zitterte vor Entrüstung.
Zugegebenermaßen starrte ich trotz meines Vertrauens in Azazel verwundert zu ihm hinüber. Er hatte keine Fußabdrücke hinterlassen, und sein rutschender Körper hatte keine Furche in den Schnee gezogen.
Ich sagte: »Auf dem Schnee hast du kein Gewicht.«
»Du bist verrückt«, erwiderte er.
»Schau dir den Schnee an«, sagte ich. »Du hast keine Spuren hinterlassen.«
Er starrte auf den Schnee und machte dann ein paar Bemerkungen, die man früher als nicht gesellschaftsfähig bezeichnet hätte.
»Außerdem«, fuhr ich fort, »hängt die Reibung zum Teil von dem Druck ab, den ein rutschender Körper auf die Oberfläche ausübt, auf der er sich bewegt. Je geringer dieser Druck, desto geringer die Reibung. Da du nichts wiegst, übst du keinen Druck auf den Schnee aus, es gibt also keine Reibung, und deshalb gleitest du über den Schnee, als sei es das glatteste Eis.«
»Und was soll ich nun tun? Meine Füße rutschen ständig unter mir weg!«
»Es tut dir doch nicht weh, oder? Wenn du kein Gewicht hast und auf dem Rücken landest, kann es nicht weh tun.«
»Trotzdem. Nur weil ich mir nicht wehgetan habe, ist das kein Grund, den Rest meines Lebens auf dem Rücken im Schnee zu verbringen.«
»Nun komm schon, Septimus, stell dir vor, daß du wieder Gewicht hast und dann steh auf.«
Er machte wie üblich ein finsteres Gesicht und sagte: »Ich soll mir also einfach vorstellen, daß ich wieder etwas wiege, ja?« Aber er tat es und kam unbeholfen auf die Füße.
Er sank einige Zentimeter tief in den Schnee ein, und als er vorsichtig versuchte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, hatte er dabei nicht mehr Schwierigkeiten, als dies normalerweise zu erwarten wäre.
»Wie machst du das, George?« fragte er mit einer Achtung in der Stimme, die er mir bisher nicht entgegengebracht hatte. »Ich hätte nicht gedacht, daß du Wissenschaftler bist.«
»Die CIA zwingt mich dazu, meine umfassenden wissenschaftlichen Kenntnisse zu verbergen«, erklärte ich. »Jetzt stell dir vor, daß du Stück für Stück leichter wirst, während du läufst. Deine Spuren sollten dabei immer flacher und der Schnee immer rutschiger werden. Bleib stehen, wenn du das Gefühl hast, daß er gefährlich glatt wird.«
Er gehorchte, denn wir Wissenschaftler üben mit unserem überlegenen Intellekt einen starken Einfluß auf gewöhnliche Sterbliche aus. »Jetzt«, sagte ich, »versuch ein wenig hin und her zu rutschen. Wenn du stehenbleiben willst, stell dir einfach vor, daß du wieder schwerer wirst -Und zwar langsam, sonst fällst du vornüber.«
Er hatte den Trick sofort heraus, denn er war ein sportlicher Typ. Er hatte mir einmal erzählt, daß er sämtliche Sportarten beherrschte, mit Ausnahme des Schwimmens. Als er drei Jahre alt gewesen war, hatte ihn sein Vater ins Wasser geworfen, in dem wohlmeinenden Versuch, ihm ohne ermüdenden Unterricht das Schwimmen beizubringen. Zehn Minuten Mund-zu-Mund Beatmung waren nötig, um Septimus wiederzubeleben. Er sagte, daß er sich seither vor dem Wasser fürchtete und auch eine Abneigung gegen Schnee hegte. »Schnee ist einfach nur gefrorenes Wasser«, sagte er und vertrat damit dieselbe Ansicht wie Azazel.
Seine Abneigung gegen Schnee schien sich jedoch unter den neuen Umständen gelegt zu haben. Mit einem ohrenbetäubenden »Hui!« schlitterte er umher und machte sich hin und wieder schwerer, wenn er eine Drehung vollzog, um mit einer aufspritzenden Schneefontäne zum Stehen zu kommen.
»Warte!« sagte er, stürzte ins Haus und - ob du's glaubst oder nicht - kehrte mit Schlittschuhen zurück, die er an seinen Stiefeln befestigt hatte.
»Ich habe auf meinem See Schlittschuhlaufen gelernt«, erklärte er, während er die Stiefel anzog, »aber es hat mir nie Spaß gemacht. Ich hatte immer Angst, das Eis könnte einbrechen. Jetzt kann ich gefahrlos über Land Schlittschuh lauten.«
»Aber denk daran«, sagte ich besorgt, »es funktioniert nur über H20 Molekülen. Wenn du auf ein Stück nackte Erde stößt oder auf freiliegendes Pflaster, wirst du sofort wieder dein normales Gewicht besitzen. Du könntest dich verletzen.«