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»Tatsächlich.«

»Ja. Das ist das Erstaunlichste, was mir jemals widerfahren ist.« Vandevater senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich wußte plötzlich nicht nur, daß der junge Mann die Waffe bereits bei sich getragen hatte, als er den Laden betrat, sondern auch, daß seine Mutter gar keine Kopfschmerzen gehabt hatte. Kannst du dir vorstellen, daß jemand über seine Mutter Lügenmärchen erzählt?«

Genauere Nachforschungen ergaben, daß Vandevaters Instinkt ihn nicht getrogen hatte. Der junge Mann hatte tatsächlich Lügen über seine Mutter erzählt.

Von diesem Augenblick an verbesserte sich Vandevaters Fähigkeit ständig.

Innerhalb eines Monats hatte er sich in eine scharfsinnige, abgebrühte Maschine zur Aufdeckung von Unwahrheiten verwandelt.

Seine Abteilung sah voller Erstaunen zu, wie Vandevater einen Angeklagten nach dem anderen überführte. Mochte jemand noch so sehr beteuern, in tiefes Gebet versunken gewesen zu sein, als die Almosenschale geplündert wurde - Vandevaters geschicktem Verhör vermochte er nicht standzuhalten. Den Rechtsanwalt, der -ganz aus Versehen - Treuhandgelder für die Renovierung seines Büros verwendet hatte, brachte er rasch in Verlegenheit. Buchhalter, die zufällig eine Telefonnummer vom Steuerbetrag abgezogen hatten, verwickelten sich in Widersprüche. Drogendealer, die ein fünf Kilo schweres Paket Heroin in einer Cafeteria entgegengenommen hatten, in der Überzeugung, es handele sich dabei um Süßstoff, wurden augenblicklich mit ihrer eigenen Logik geschlagen.

Bald nannte man ihn >Vandevater den Siegreichem, und der Polizeipräsident persönlich übergab ihm unter dem Beifall der versammelten Polizeimannschaft einen Schlüssel, mit dem sich die Toilettentür öffnen ließ, ganz zu schweigen davon, daß sein Büro an das Ende des Flurs verlegt wurde.

Ich beglückwünschte mich dazu, daß alles gut gegangen war und Vandevater nun, da sein Erfolg gesichert war, die schöne Minerva Schlump heiraten konnte. Da erschien Minerva selbst an der Tür meines Apartments.

»Oh, Onkel George«, flüsterte sie leise und ihr geschmeidiger Körper schwankte. Sie war offenbar kurz davor, das Bewußtsein zu verlieren.

Ich hob sie hoch und hielt sie fünf oder sechs Minuten fest, während ich überlegte, auf welchem Sessel ich sie absetzen könnte.

»Was hast du denn, Liebes?« fragte ich, als ich mich vorsichtig ihrer entledigt und ihre Kleider glattgestrichen hatte.

»Oh, Onkel George«, sagte sie, und Tränen quollen aus ihren hübschen Augen. »Es ist Vandevater.«

»Er hat dich doch wohl nicht mit unschicklichen Annäherungsversuchen erschreckt?«

»Oh, nein, Onkel George. Er ist viel zu wohlerzogen, um so etwas vor der Hochzeit zu versuchen, obwohl ich ihm versichert habe, daß ich für den Einfluß der Hormone, der junge Männer mitunter überwältigt, durchaus Verständnis habe und ihm im Falle eines solchen bedauerlichen Vorkommnisses selbstverständlich verzeihen würde. Doch trotz all meiner Beteuerungen läßt er sich zu nichts hinreißen.«

»Was ist es dann, Minerva?«

»Oh, Onkel George, er hat unsere Verlobung gelöst.«

»Das ist unglaublich. Es kann kaum zwei Menschen geben, die besser zueinander passen. Warum denn nur?«

»Er sagt, ich würde ... Unwahrheiten erzählen.«

Meine Lippen bildeten widerstrebend das Wort >Lügen<.

Sie nickte. »Dieses abscheuliche Wort hat er nicht benutzt, aber er hat es gemeint. Erst heute morgen hat er mich in anbetungsvoller Hingabe angesehen und gefragt: >Meine Geliebte, bist du mir auch immer treu gewesen?< Und wie stets habe ich ihm gefühlvoll erwidert: >So treu, wie der Sonnenstrahl der Sonne ist und das Rosenblatt der Rose.< Doch dann verengten sich seine Augen und er sagte haßerfüllt: >Aha, deine Worte entsprechen nicht der Wahrheit. Du hast geflunkert.< Ich stand da wie vom Donner gerührt. Ich sagte: >Vandevater, mein Liebster, wie meinst du das?< Er erwiderte: >So, wie ich es gesagt habe. Ich habe mich in dir getäuscht, wir können nicht mehr länger zusammen sein.< Mit diesen Worten ist er gegangen. Ach, was soll ich jetzt bloß tun? Was soll ich bloß tun? Wo soll ich denn jetzt einen neuen erfolgreichen Verlobten hernehmen?«

Ich sagte nachdenklich: »Vandevater irrt sich in solchen Dingen normalerweise selten - zumindest seit einigen Wochen. Bist du ihm tatsächlich untreu gewesen?«

Eine leichte Röte bedeckte Minervas Wangen. »Eigentlich nicht.«

»Und uneigentlich?«

»Nun, vor einigen Jahren, als ich noch ein ganz junges Mädchen war, mit siebzehn, habe ich einen jungen Mann geküßt. Zugegeben, ich habe ihn fest an mich gedrückt -aber nur, damit er mir nicht entwischt, nicht weil ich ihn so sehr gemocht hätte.«

»Verstehe.«

»Das war keine sehr angenehme Erfahrung. Naja, zumindest nicht sehr. Als ich Vandevater kennengelernt habe, war ich verwundert darüber, um wie vieles besser mir ein Kuß von ihm gefiel als der jenes anderen jungen Mannes. Natürlich wollte ich diese befriedigende Erfahrung so oft wie möglich wiederholen. Während meiner Beziehung mit Vandevater habe ich hin und wieder - aus rein wissenschaftlichem Interesse - andere junge Männer geküßt, nur um sicher zu gehen, daß nicht einer von ihnen, nicht einer, es mit meinem lieben Vandevater aufnehmen konnte. Ich kann dir versichern, Onkel George, daß ich ihnen jede Freiheit gestattet habe, was die Art und Weise des Küssens anbelangte, sie durften mich sogar festhalten und an sich drücken, doch keiner von ihnen konnte Vandevater das Wasser reichen. Und trotzdem behauptet er, ich sei ihm untreu gewesen.«

»Wie lächerlich«, sagte ich. »Mein Kind, dir wurde Unrecht getan.« Ich küßte sie vier oder fünf Mal und sagte dann: »Das hat dir sicher bei weitem nicht so viel Vergnügen bereitet wie Vandevaters Küsse, oder?«

»Laß mich sehen«, sagte sie und küßte mich ebenfalls vier oder fünf Mal mit großer Kunstfertigkeit und Hingabe. »Natürlich nicht«, sagte sie.

»Ich werde mit ihm reden«, sagte ich.

Noch am selben Abend besuchte ich ihn in seinem Apartment. Er saß übellaunig in seinem Wohnzimmer und lud seinen Revolver, um ihn dann wieder zu entladen.

»Zweifellos«, sagte ich, »denkst du daran, dich umzubringen.«

»Niemals«, sagte er mit einem trockenen Lachen. »Weshalb sollte ich mich umbringen? Weil ich ein unbedeutendes Weibsstück verloren habe? Eine Lügnerin? Soll sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst!«

»Du bist im Unrecht. Minerva ist dir immer treu gewesen. Ihre Hände, Lippen und ihr Körper haben nie die Hände, Lippen oder den Körper eines anderen Mannes berührt.«

»Ich weiß, daß das nicht stimmt«, sagte Vandevater.

»Und ich sage dir, das es stimmt«, erwiderte ich. »Ich habe ausführlich mit dem weinenden Mädchen gesprochen, und sie hat mir die tiefsten Geheimnisse ihres Lebens anvertraut. Sie hat einmal einem jungen Mann einen Handkuß zugeworfen. Damals war sie fünf Jahre alt und er war sechs, und seither zermartert sie sich den Kopf über diesen einen Augenblick des Liebeswahns. Eine solche Unanständigkeit hat sich niemals wiederholt, und doch ist es das, was du wahrgenommen hast.«

»Sprichst du die Wahrheit, Onkel George?«

»Sieh mich mit deinem unfehlbaren, scharfsinnigen Blick an, und ich werde noch einmal wiederholen, was ich gerade gesagt habe. Und dann kannst du mir sagen, ob ich die Wahrheit gesprochen habe.«