Eines dieser Bücher lag ganz unverhohlen aufgeschlagen auf dem Schreibtisch, und ich glaube, daß er eben noch darin geblättert hatte. Sein rechter Zeigefinger machte einen verdächtig staubigen Eindruck, und er versuchte, ihn ungeschickt hinter seinem Rücken zu verbergen.
Aber Artaxerxes' Anblick war noch erschütternder. Natürlich erkannte er in mir einen alten Freund der Familie. Ich hatte ihn neun Jahre lang nicht mehr gesehen, doch in dieser Zeit hatten sich meine vornehme Haltung und mein frisches, offenes Antlitz nicht verändert. Vor neun Jahren war Artaxerxes jedoch ein unscheinbarer zehnjähriger Junge gewesen. letzt war er zwar nicht mehr wiederzuerkennen, aber immer noch ein vollkommen unscheinbarer Jugendlicher von neunzehn Jahren. Er war kaum einen Meter sechzig groß, trug eine große, runde Brille und machte einen ausgemergelten Eindruck.
»Wieviel wiegst du?« fragte ich ihn geradeheraus.
»Achtundvierzig Kilo«, flüsterte er.
Ich starrte ihn mit aufrichtigem Mitleid an. Er war ein achtundvierzig Kilo leichter Schwächling. Er mußte geradezu zur Zielscheibe von Spott und Verachtung werden.
Doch dann wurde mir ganz weich ums Herz, als ich dachte: der arme, arme Junge! Wie sollte er mit einem solchen Körperbau an jenen Aktivitäten teilnehmen, die für eine ausgewogene Collegeausbildung unerläßlich sind? Fußball? Leichtathletik? Ringkampf? Sackhüpfen? Wenn einer der anderen Jungen rief: »Ich kenne da eine alte Scheune. Wir könnten uns Kostüme nähen und dort ein Musical aufrühren!« - was sollte er dann tun? Konnte er mit solchen Lungen überhaupt singen außer einen dünnen Sopran?
Er mußte geradezu gegen seinen Willen in die Schande abgleiten.
Leise, beinahe sanft sagte ich: »Artaxerxes, mein junge, stimmt es, daß du Differenzialrechnung und Volkswirtschaft studierst?«
Er nickte: »Und Anthropologie.«
Ich unterdrückte einen empörten Aufschrei und fuhr fort: »Und stimmt es, daß, du Kurse besuchst?«
»Tut mir Leid, Sir, aber das stimmt. Am Ende des Jahres möchte ich auf der Liste herausragender Studenten stehen.«
In einem seiner Augen hatte sich eine verräterische Träne gebildet, und trotz meines Entsetzens schöpfte ich ein wenig Hoffnung - immerhin war ihm bewußt, wie tief er gesunken war.
Ich sagte: »Mein Kind, kannst du nicht wenigstens jetzt von diesem abscheulichen Verhalten Abstand nehmen und zu einem reinen und unbefleckten Collegeleben zurückkehren?«
»Das kann ich nicht«, sagte er schluchzend. »Ich habe mich schon zu weit davon entfernt. Niemand kann mir noch helfen.«
Ich hielt mich nun schon an jedem Strohhalm fest. »Gibt es denn keine einzige anständige Frau an diesem College, die sich um dich kümmern könnte? Die Liebe einer guten Frau hat schon oft Wunder gewirkt, und daran hat sich sicher bis heute nichts geändert.«
Seine Augen leuchteten auf. Ich hatte offenbar einen Nerv getroffen. »Philomel Kribb«, seufzte er. »Sie ist Sonne, Mond und Sterne, die das Meer meiner Seele erleuchten.«
»Ah!« sagte ich, denn ich hatte die Gefühle bemerkt, die sich hinter seiner beherrschten Ausdrucksweise verbargen. »Weiß sie davon?«
»Wie könnte ich ihr davon erzählen? Das Ausmaß ihrer Verachtung würde mich niederschmettern.«
»Würdest du nicht das Differenzialrechnen aufgeben, um ihre Zuneigung zu gewinnen?«
Er ließ den Kopf sinken. »Ich bin schwach - so schwach.«
Ich verließ ihn mit dem festen Entschluß, auf der Stelle nach Philomel Kribb zu suchen.
Sie war nicht schwer zu finden. Im Immatrikulationsbüro fand ich schnell heraus, daß sie einen Abschluß in Fortgeschrittenem Cheerleading anstrebte, mit Revuetanz als Nebenfach. Ich fand sie im Cheerleading-Studio.
Geduldig wartete ich, bis das komplizierte Gestampfe und melodiöse Geschrei vorbei war und fragte dann, welches der Mädchen Philomel sei. Sie war blond, von mittlerer Größe, strotzte förmlich vor Gesundheit und Schweiß, und ihre Figur entlockte mir ein zustimmendes Nicken. Unter Artaxerxes' irregeleitetem Lerneifer verbarg sich offenbar doch ein Bewußtsein der wahren Interessen eines Collegestudenten.
Nachdem sie geduscht und ihre farbenprächtige und knappe Collegeuniform angezogen hatte, gesellte sie sich zu mir, so frisch und strahlend wie ein taubesprenkeltcs Kornfeld.
Ich kam sofort zur Sache und sagte: »Der junge Artaxerxes hält dich für die astronomische Erleuchtung seines Lebens.«
Ich hatte den Eindruck, daß ihr Blick ein wenig sanfter wurde, als sie sagte: »Der arme Artaxerxes. Er hätte wirklich Hilfe nötig.«
»Er könnte ein wenig Hilfe von einer anständigen Frau gebrauchen«, warf ich ein.
»Ich weiß«, sagte sie, »und ich bin so anständig wie sonst niemand - das habe ich zumindest gehört.« Ihre Wangen überzogen sich mit einer betörenden Röte. »Aber was kann ich tun? Gegen die Natur komme ich nicht an. Bullwhip Costigan nutzt jede Gelegenheit, um Artaxerxes zu demütigen. Er verspottet ihn vor aller Augen, schubst ihn herum, schlägt ihm seine dummen Bücher aus den Händen, und das alles unter dem Gelächter der versammelten Menge. Sie wissen ja, wie sich der Frühling auf die Gemüter auswirkt.«
»Ach ja«, sagte ich versonnen, als ich mich an jene glücklichen Tage erinnerte und daran, wie oft ich einen Gegner beim Kragen gepackt hatte. »Frühlingsgefühle!«
Philomel seufzte. »Ich habe seit langem gehofft, daß Artaxerxes Bullwhip einmal auf gleicher Augenhöhe begegnen würde - ein Hocker wäre dabei hilfreich, denn Bullwhip ist über eins achtzig. Aber aus irgendeinem Grund gelingt das Artaxerxes nicht. Diese ganze Lernerei«, sie schauderte, »schwächt die Moral.«
»Zweifellos. Aber wenn du ihn aus diesem Sumpf herausholen würdest ... «
»Ach Sir, tief in seinem Inneren ist er ein freundlicher und aufmerksamer junger Mann, und ich würde ihm helfen, wenn ich könnte. Aber gegen meine Gene komme ich nicht an, und die ziehen mich nun mal zu Bullwhip hin. Bullwhip ist gutaussehend, muskulös und dominant, und solche Eigenschaften beeindrucken einen Cheerleader wie mich natürlich sehr.«
»Und wenn Artaxerxes sich gegen Bullwhip durchsetzen würde?«
»Ein Cheerleader«, sagte sie, richtete sich stolz auf und offenbarte dabei ein recht beeindruckendes Dekollete, »muß seinem Herzen folgen, und es würde sich unweigerlich vom Verlierer abwenden und zum Gewinner hingezogen fühlen.«
Das waren einfache Worte, und ich wußte, dieses ehrliche Mädchen sprach aus den Tiefen ihrer Seele.
Nun war mir klar, was ich zu tun hatte. Wenn Artaxerxes dem unbedeutenden Unterschied von zwanzig Zentimetern und fünfzig Kilo zum Trotz Bullwhip zu Boden schickte, würde Philomel ihm gehören. Sie würde aus ihm einen echten Mann machen, der einem Leben entgegensah, das von so wichtigen Dingen wie Biertrinken und Fußballübertragungen im Fernsehen bestimmt war.
Das war eindeutig ein Fall für Azazel.
Ich weiß nicht, ob ich dir schon einmal von Azazel erzählt habe. Er ist ein zwei Zentimeter großes Wesen aus einer anderen Dimension, das ich mit Hilfe geheimer Zaubersprüche und Beschwörungsformeln herbeirufen kann, die nur ich allein kenne.
Azazel verfügt über Kräfte, die den unseren weit überlegen sind. Darüber hinaus besitzt er jedoch keine angenehmen Eigenschaften, denn er ist ein überaus selbstsüchtiges Wesen, das seine eigenen belanglosen Angelegenheiten stets über meine wichtigen Bedürfnisse stellt.
Dieses Mal erschien er auf der Seite liegend. Seine kleinen Augen waren geschlossen, und sein winziger Schwanz peitschte träge durch die Luft.
»Oh Mächtiger«, sagte ich, denn er bestand darauf, daß man ihn mit diesem Namen ansprach.
Er öffnete die Augen und stieß sofort ein ohrenbetäubendes Pfeifen aus, am obersten Rand meiner Hörskala. Sehr unangenehm.