»Willst du etwa behaupten, daß du auch schreibst?« fragte ich spöttisch und grub meinen Löffel in das Tortelett.
»Nein«, erwiderte George und machte sich ebenfalls über sein Tortelett her. »Aber ich bin eine weitaus bedeutendere Persönlichkeit, ein Wohltäter der Menschheit - ein unterschätzter, verkannter Wohltäter der Menschheit.«
Ich hätte schwören können, daß eine winzige Träne sein linkes Auge benetzte. »Ich kann mir nicht vorstellen«, sagte ich freundlich, »daß jemand eine so schlechte Meinung von dir haben könnte, um dich in irgendeiner Weise zu unterschätzen.«
»Ich will über deinen Spott hinwegsehen«, sagte George, »da er dir nun einmal im Blut liegt, und werde dir erzählen, daß ich gerade an eine schöne Frau namens Holunderbeere Muggs denken mußte.«
»Holunderbeere?« fragte ich ein wenig ungläubig.
Sie hieß tatsächlich Holunderbeere [sagte George]. Ich weiß nicht, warum ihre Eltern ihr diesen Namen gegeben haben. Vielleicht haben sie sich an einen zärtlichen Augenblick vor ihrer Hochzeit erinnert. Holunderbeere war der Meinung, daß ihre Eltern ein wenig mit Holunderwein beschwipst gewesen waren, während jener Begebenheit, der sie ihr Leben verdankte. Sie hätte es sonst im Leben womöglich gar nicht erst so weit gebracht.
Jedenfalls bat mich ihr Vater, ein alter Freund, bei ihrer Taufe den Paten zu geben, und ich konnte ihm den Wunsch nicht abschlagen. Viele meiner Freunde sind von meiner vornehmen Erscheinung und meinem offenen und tugendhaften Antlitz so beeindruckt, daß sie sich in einer Kirche nur wohl fühlen, wenn ich an ihrer Seite sitze. Deshalb bin ich schon des öfteren Taufpate gewesen. Natürlich nehme ich diese Angelegenheit sehr ernst und bin mir der Verantwortung, die mit diesem Amt verbunden ist, durchaus bewußt. Deshalb bemühe ich mich in späteren Jahren auch um eine gute Beziehung zu meinen Patenkindern, besonders wenn sie von so überirdischer Schönheit sind wie Holunderbeere.
Ihr Vater starb, als sie gerade zwanzig geworden war, und wie das Schicksal es wollte, erbte sie ein beachtliches Sümmchen Geld, was ihrer Schönheit in den Augen der Welt selbstverständlich nicht abträglich war. Ich selbst bin natürlich darüber erhaben, viel Aufhebens um etwas so Nebensächliches wie Geld zu machen, aber ich hielt es für meine Pflicht, sie vor Mitgiftjägern zu schützen. Ich bemühte mich also noch stärker darum, unsere Beziehung zu pflegen und besuchte sie häufig zum Essen. Schließlich mochte sie ihren Onkel George über alles - wie du dir sicher vorstellen kannst -, und das kann ich ihr auch nicht verdenken.
Außerdem hatte Holunderbeere den Notgroschen, den ihr Vater ihr hinterlassen hatte, gar nicht wirklich nötig. Sie war eine recht bekannte Bildhauerin geworden, und der künstlerische Wert ihrer Werke wurde durch den hohen Preis bestätigt, den sie bei ihrem Verkaut regelmäßig erzielte.
Ich persönlich konnte mit ihren Arbeiten wenig anfangen. Mein Kunstgeschmack ist eher ätherisch, und ich kann deshalb an Werken nichts finden, die sie zum Vergnügen jener Vertreter der ungebildeten Masse geschaffen hat, die sich ihre Preise leisten konnten.
Ich erinnere mich, daß ich sie einmal gefragt habe, was eine bestimmte Skulptur darstelle.
»Wie du siehst«, sagte sie, »trägt das Werk den Titel >Storch im Fluge<.«
Ich betrachtete das Objekt, das aus feinster Bronze gegossen war, etwas genauer und sagte: »Ja, ich habe das Schild gelesen. Aber wo ist der Storch?«
»Hier«, sagte sie und wies auf einen kleinen Metallkegel, der aus einem eher formlosen Bronzesockel herausragte und am oberen Ende spitz zulief.
Ich betrachtete ihn nachdenklich und sagte dann: »Ist das ein Storch?«
»Natürlich, mein alter Schnurzelbutz«, sagte sie (sie sprach mich immer mit solchen Kosenamen an). »Das ist die Spitze des langen Storchenschnabels.«
»Reicht das denn aus, Holunderbeere?«
»Vollkommen«, erwiderte Holunderbeere. »Nicht den Storch selbst will ich darstellen, sondern die abstrakte Vorstellung vom Storch an sich, und das ist genau das, was einem diese Skulptur vor Augen führt.«
»Tatsächlich«, sagte ich ein wenig ratlos, »jetzt, wo du's sagst. Aber auf dem Schild steht, daß sich der Storch im Fluge befindet. Wie soll das zu verstehen sein?«
»Aber Mausebärchen«, rief sie, »siehst du denn nicht diesen etwas formlosen Bronzesockel?«
»Ja«, sagte ich. »Er ist ja kaum zu übersehen.«
»Und du wirst mir sicher zustimmen, daß Luft - so wie überhaupt jedes Gas - eine formlose Masse ist. Nun, und dieser etwas formlose Bronzesockel ist eindeutig eine abstrakte Darstellung der Atmosphäre. Wie du siehst, befindet sich auf der Oberfläche des Sockels eine waagerechte schmale Linie.«
»fa. Jetzt wird mir alles klar.«
»Das ist die abstrakte Darstellung eines Fluges durch die Atmosphäre.«
»Bemerkenswert«, sagte ich. »Wie mir das alles deutlich wird, wenn du es erklärst. Wieviel wirst du denn für die Skulptur bekommen?«
»Ach«, sagte sie und winkte nachlässig ab, »zehntausend Dollar vielleicht. Es ist ein so einfaches und offensichtliches Werk, daß ich nicht wagen würde, mehr dafür zu verlangen. Es ist eher zufällig entstanden. Nicht wie jenes dort.« Sie wies auf ein Wandgemälde aus Jutesäcken und Kartonstückchen, in dessen Mitte sich ein zerbrochener Schneebesen befand, der mit etwas bekleckert war, das aussah wie getrocknetes Ei.
Ich betrachtete das Gemälde respektvoll. »Sicher unbezahlbar!« sagte ich.
»Das denke ich auch«, sagte sie. »Schließlich ist es kein neuer Schneebesen, weißt du. Er besitzt die Patina des Alters. Ich habe ihn aus irgendeinem Müllbeutel geholt.«
Und dann, ich kann mir nicht erklären warum, begann ihre Unterlippe zu zittern und sie sagte mit bebender Stimme: »Ach, Onkel George.«
Sofort war ich von Unruhe und Sorge erfüllt. Ich griff nach ihrer schöpferischen linken Hand mit den starken Fingern einer Bildhauerin und drückte sie. »Was hast du denn, mein Kind?«
»Ach, George«, sagte sie. »Ich habe es so satt, mir diese einfachen Abstraktionen auszudenken, nur weil sie dem Geschmack der Menge entsprechen.« Sie legte die Knöchel ihrer rechten Hand an die Stirn und sagte dramatisch: »Ich wünschte so sehr, ich könnte das machen, was ich gern möchte, was mir mein Künstlerherz eingibt.«
»Und was wäre das, Holunderbeere?«
»Ich möchte experimentieren. Ich möchte neue Wege beschreiten.
Ich möchte das versuchen, was noch nie versucht wurde, das wagen, was nie gewagt wurde und das herstellen, was eigentlich nicht herstellbar ist.«
»Warum tust du es dann nicht, mein Kind? Du bist doch sicher reich genug, um tun und lassen zu können, was du willst?«
Plötzlich lächelte sie, und ihr ganzes Gesicht leuchtete vor Schönheit. »Danke, Onkel George«, sagte sie. »Danke, daß du das gesagt hast. Ich gönne mir das auch - hin und wieder. Ich habe ein geheimes Zimmer, in dem ich meine kleinen Experimente aufbewahre. Werke, die nur das gebildete Auge des Künstlers zu würdigen weiß. Kaviar für die Massen«, fügte sie hinzu.
»Darf ich sie mir ansehen?«
»Natürlich, mein lieber Onkel. Schließlich hast du mich in meinen Hoffnungen bestärkt - wie könnte ich es dir da abschlagen?«
Sie hob einen schweren Vorhang an, hinter dem sich eine geheime Tür befand - kaum sichtbar, so genau war sie in die Wand eingepaßt. Sie drückte einen Knopf, und die Tür öffnete sich. Wir gingen hindurch, und als sich die Tür hinter uns geschlossen hatte, ließen grelle Neonröhren den fensterlosen Raum, in den wir getreten waren, in taghellem Licht erstrahlen.
Mein Blick fiel sofort auf die Skulptur eines Storches, die aus einem schweren, harten Material angefertigt war. Jede Feder saß an der richtigen Stelle, die Augen leuchteten, der Schnabel war leicht geöffnet und die Flügel waren halb ausgebreitet. Das Tier sah aus, als wolle es sich jeden Augenblick in die Lüfte erheben.