»Gütiger Himmel, Holunderbeere«, sagte ich. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Gefallt es dir? Ich nenne es >photografische Kunst< und ich glaube, es besitzt eine ganz eigene Schönheit. Natürlich äußerst experimentell. Kritiker und Öffentlichkeit würden mich auslachen und verspotten, weil sie nichts damit anzufangen wüßten. Sie wissen nur einfache Abstraktionen zu schätzen, die vollkommen oberflächlich sind und die jeder verstehen kann. Kunst wie diese hier erschließt sich nur dem Scharfsinnigen und dem, der bereit ist, sich auf den langsamen Verständnisprozeß einzulassen.«
Danach genoß ich hin und wieder das Privileg, ihr geheimes Zimmer besuchen zu dürfen und die seltenen Stücke zu betrachten, die unter ihren starken Fingern und ihrem geübtem Meißel entstanden. Ich war voller Bewunderung für den Kopf einer Frau, der Holunderbeere wie aus dem Gesicht geschnitten war.
»Ich nenne es >Der Spiegel««, sagte sie und lächelte scheu. »Es ist ein Abbild meiner Seele, findest du nicht auch?«
Ich stimmte ihr begeistert zu.
Ich denke, das hat sie schließlich dazu gebracht, mir das größte ihrer Geheimnisse zu zeigen.
Ich sagte zu ihr: »Holunderbeere, wie kommt es, daß du gar keine ...« Ich hielt inne, doch ich wollte nicht um den heißen Brei herumreden und fuhr deshalb fort: »... Verehrer hast?«
»Verehrer«, sagte sie mit einem verächtlichen Blick. »Pah! Sie scharen sich geradezu um mich, diese Möchtegern-Verehrer, von denen du sprichst. Aber wie kann ich sie zur Kenntnis nehmen? Ich bin Künstlerin. In Herz, Geist und Seele trage ich ein Bild von wahrer männlicher Schönheit, dem kein Mann aus Fleisch und Blut nahekommen kann. Das und nur das kann mein Herz gewinnen. Das und nur das hat mein Herz gewonnen.«
»Es hat dein Herz gewonnen, mein Kind?« sagte ich sanft. »Du bist ihm also schon begegnet?«
»In der Tat ... Aber komm, Onkel George, du sollst ihn sehen. Du sollst mein großes Geheimnis mit mir teilen.«
Wir kehrten in das Zimmer mit der photographischen Kunst zurück, und dort wurde noch ein dicker Vorhang zur Seite gezogen und gab den Blick auf eine Wandnische frei, die ich zuvor noch nicht gesehen hatte. In dieser Wandnische befand sich die Statue eines Mannes, etwa eins achtzig groß, nackt und - so weit ich das beurteilen kann -, bis auf den letzten Millimeter anatomisch korrekt.
Holunderbeere drückte einen Knopf, und die Statue begann sich auf ihrem Sockel langsam zu drehen, so daß ihre glatte Symmetrie und ihre vollkommenen Proportionen aus jedem Blickwinkel zu erkennen waren.
»Mein Meisterwerk«, hauchte Holunderbeere.
Ich bin kein besonderer Bewunderer männlicher Schönheit, aber in Holunderbeer es hübschem Gesicht sah ich eine atemlose Begeisterung, die deutlich machte, daß sie vollkommen von Liebe und Anbetung erfüllt war.
»Du bist in diese Statue verliebt«, sagte ich und vermied mit Bedacht das unpersönliche Pronomen >es<.
»Oh ja«, sagte sie. »Ich würde mein Leben für ihn geben. Solange es ihn gibt, erscheinen mir alle anderen Männer mißgestaltet und häßlich. Jede Berührung eines anderen Mannes würde in mir ein Gefühl des Abscheus hervorrufen. Ich will nur ihn. Nur ihn.«
»Mein armes Kind«, sagte ich. »Die Statue ist nicht lebendig.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte sie niedergeschlagen. »Es zerreißt mir das Herz. Was soll ich nur tun?«
Ich murmelte: »Wie traurig! Das erinnert mich an die Geschichte des Pygmalion.«
»Wessen Geschichte?« fragte Holunderbeere, die wie alle Künstler recht einfach gestrickt war und von der großen weiten Welt keinen blassen Schimmer hatte.
»Pygmalion. Das ist eine Geschichte aus dem Altertum. Pygmalion war ein Bildhauer so wie du, außer natürlich, daß er ein Mann war. Wie du hat er eine wunderschöne Statue geschaffen, nur hat er aufgrund besonderer männlicher Vorurteile eine Frau gestaltet, die er Galatea nannte. Die Statue war so schön, daß Pygmalion sich in sie verliebte. Du siehst, genau wie in deinem Fall, nur daß du eine lebende Galatea bist und die Statue ein aus Marmor gehauener ... «
»Nein«, sagte Holunderbeere energisch, »erwarte nicht, daß ich ihn Pygmalion nenne. Das ist ein rauher, derber Name, und ich will etwas Poetisches. Ich nenne ihn«, und ihr Gesicht leuchtete erneut voller Liebe auf, »Dirk. Dieser Name, Dirk, hat so etwas Weiches, Musikalisches, das meine Seele berührt. Aber was ist mit Pygmalion und Galatea geschehen?«
Ich sagte: »Von Liebe überwältigt, betete Pygmalion zu Aphrodite ... «
»Wen?«
»Aphrodite, die griechische Göttin der Liebe. Er betete zu ihr und aus Mitleid hat sie die Statue zum Leben erweckt. Galatea wurde eine lebendige Frau, heiratete Pygmalion und beide lebten glücklich bis an ihr Lebensende.«
»Hmm«, grübelte Holunderbeere, »ich nehme an, Aphrodite existiert eigentlich gar nicht, oder?«
»Nein, eigentlich nicht. Allerdings ...« Ich hielt inne. Ich glaube nicht, daß Holunderbeere mich verstanden hätte, wenn ich ihr von einem zwei Zentimeter großen Dämon namens Azazel erzählt hätte.
»Zu schade«, sagte sie. »Wenn irgend jemand Dirk für mich zum Leben erwecken könnte, wenn jemand diesen harten, kalten Marmor in warmes, weiches Fleisch verwandeln könnte, würde ich ihn überschütten mit ... Oh, Onkel George, kannst du dir vorstellen, wie es wäre, Dirk zu umarmen und sein warmes, weiches Fleisch unter deinen Händen zu spüren - so weich ... so weich ...« Sie murmelte diese Worte in inniger Verzückung.
Ich sagte: »Nun, meine liebe Holunderbeere, eigentlich möchte ich mir das ungern vorstellen. Aber ich kann verstehen, daß du den Gedanken reizvoll findest. Du sagtest gerade, wenn jemand diesen harten, kalten Marmor in weiches, warmes Fleisch verwandeln könnte, würdest du ihm etwas geben. Hattest du da tatsächlich an etwas Bestimmtes gedacht, Liebes?«
»Aber natürlich! Ich würde ihm eine Million Dollar geben.«
Ich hielt inne, wie jeder das aus Respekt vor einer solchen Summe getan hätte. Dann sagte ich: »Besitzt du tatsächlich eine Million Dollar, Holunderbeere?«
»Ich habe sogar zwei Millionen von diesen hübschen Scheinchen, Onkel George«, sagte sie auf ihre einfache und unverdorbene Art. »Die Hälfte davon wegzugeben, würde mir nichts ausmachen. Dirk wäre es wert. Außerdem könnte ich sie jederzeit wieder verdienen, indem ich ein paar Abstraktionen für die Masse zusammenklopfe.«
»So ist das also«, sagte ich. »Nun, dann Kopf hoch, Holunderbeere. Wir wollen doch mal sehen, was dein Onkel George für dich tun kann.«
Das war eindeutig ein Fall für Azazel. Ich rief also meinen kleinen Freund herbei, der zufälligerweise aussieht wie ein zwei Zentimeter kleiner Teufel mit zwei winzigen Hörnchen und einem spitz zulaufenden, zuckenden Schwanz.
Wie üblich hatte er schlechte Laune, und er bestand darauf, meine Zeit damit zu verschwenden, mir in ziemlich langweiligen Einzelheiten zu erzählen, warum er gerade so schlechte Laune hatte. Offenbar hatte er sich an einem Kunstwerk versucht - zumindest nach den Maßstäben seiner lächerlichen Welt, denn obwohl er es bis ins kleinste Detail beschrieb, konnte ich nicht verstehen, worum es sich dabei handelte - und es war von den Kritikern verrissen worden. Ich nehme an, Kritiker sind überall im Universum gleich - bösartig und nichtsnutzig, allesamt.
Allerdings solltest du dich wohl glücklich schätzen, daß die Kritiker auf der Erde zumindest noch über ein Quentchen Anstand verfügen. Wenn man Azazel Glauben schenken darf, ist das, was die Kritiker über ihn gesagt haben, weitaus schlimmer als alles, was jemals über dich geäußert wurde. Noch das harmloseste der Adjektive würde bei uns jeden anständigen Künstler zwingen, seinen Kritiker zum Duell herauszufordern. Die Ähnlichkeit eurer Beschwerden war es, die mich an diese Begebenheit erinnert hat.