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»Da bin ich ganz sicher«, sagte ich, »aber bei Streitgesprächen über Religion stehen meist mehrere Kontrahenten gegeneinander, während du allein bist. Ein Dutzend Leute, die sich einig sind, könnten dich durchaus zu Brei hauen. Außerdem«, fügte ich hinzu, »nehmen wir mal an, du gewinnst eine Diskussion über eine religiöse Frage. Das könnte dazu führen, daß einer dieser Herren vom Glauben abfallt. Möchtest du dafür wirklich die Verantwortung übernehmen?«

Baldur schaute gequält drein, denn er war ein Mann gütigen Herzens. »Ich mache nie Bemerkungen über heikle religiöse Fragen. Ich rede über Kain und darüber, daß Jonas unmöglich drei Tage im Bauch eines Walfischs überleben konnte und über das Wasserwandeln. Ich sage nie etwas wirklich Fieses. Ich sage auch nie etwas gegen den Weihnachtsmann, oder? - Hör zu, ich hörte einmal einen Kerl steif und fest behaupten, daß der Weihnachtsmann nur acht Rentiere hat und kein Rudolf Rotnase je seinen Schlitten gezogen hat. Darauf sagte ich: >Möchten Sie kleine Kinder unglücklich machen?< und scheuerte ihm eine. Und ich dulde auch nicht, daß jemand etwas gegen Frosty den Schneemann sagt.«

Diese Feinfühligkeit rührte mich natürlich. »Wie konnte es nur soweit kommen, Baldur?« fragte ich ihn. »Wie konntest du zu einem derart verbissenen Ungläubigen werden?«

»Engel«, sagte er und runzelte finster die Stirn.

»Engel?«

»Ja. Als Kind sah ich Bilder von Engeln. Hast du nie Bilder von Engeln gesehen?«

»Natürlich.«

»Sie haben Flügel. Sie haben Arme und Beine und Flügel auf dem Rücken. Als Kind las ich naturwissenschaftliche Bücher und erfuhr, daß jedes Tier mit einer Wirbelsäule vier Gliedmaßen hat. Sie haben vier Flossen oder vier Beine oder zwei Beine und zwei Arme oder zwei Beine und zwei Flügel. Manchmal konnten sie die beiden Hinterbeine verlieren, so wie Wale, oder die beiden Vorderbeine, so wie Kiwis, oder alle vier Beine, so wie Schlangen. Wie kommt es also, daß Engel sechs Gliedmaßen haben, zwei Beine, zwei Arme und zwei Flügel? Sie haben doch eine Wirbelsäule, oder etwa nicht? Sie sind doch keine Insekten, oder? Ich fragte meine Mutter danach und sie sagte, ich solle den Mund halten. Von da an dachte ich über viele solcher Fragen nach.«

»Eigentlich, Baldur«, sagte ich, »kannst du diese Darstellungen von Engeln nicht wörtlich nehmen. Diese Flügel sind symbolischer Natur.

Sie sollen einfach nur die Geschwindigkeit verdeutlichen, mit denen sich Engel von einem Ort zum anderen begeben können.«

»Ach ja?« entgegnete Baldur. »Du kannst diese Bibeltypen jederzeit fragen, ob Engel Flügel haben. Sie glauben, daß Engel Flügel haben. Sie sind zu dumm, das mit den sechs Gliedmaßen zu begreifen. Die ganze Sache ist dumm. Außerdem beschäftigt mich das mit den Engeln. Sie sollen angeblich fliegen können, wie kommt es also, daß ich nicht fliegen kann? Das ist nicht richtig.« Er schob die Unterlippe vor und schien den Tränen nahe zu sein. Das war mehr, als mein weiches Herz ertragen konnte, daher suchte ich nach einer Möglichkeit, ihn zu trösten.

»Wenn es soweit ist, Baldur«, sagte ich, »wenn du stirbst und in den Himmel kommst, dann bekommst du Flügel und einen Heiligenschein und eine Harfe und kannst auch fliegen.«

»Glaubst du diesen Mist, George?«

»Nicht wortwörtlich, aber es wäre ein Trost, daran zu glauben. Warum versuchst du es nicht?«

»Das werde ich nicht, weil es nicht wissenschaftlich ist. Ich wollte mein ganzes Leben lang fliegen - ich selbst, nur mit meinen Armen. Ich dachte mir, es muß eine wissenschaftliche Methode geben, wie ich allein fliegen kann, hier auf der Erde.«

Ich wollte ihn immer noch trösten, daher sagte ich unbedacht, da ich vielleicht einen über den Durst getrunken hatte: »Ich bin sicher, daß es eine Möglichkeit gibt.«

Er sah mich mit einem strengen Blick aus seinen leicht blutunterlaufenen Augen an. »Vergackeierst du mich?« fragte er. »Machst du dich über den aufrichtigen Wunsch meiner Kindheit lustig?«

»Nein, nein«, sagte ich, und plötzlich fiel mir auf, daß er vermutlich ein ganzes Dutzend Drinks zuviel intus hatte und seine rechte Faust höchst unangenehm zuckte. »Würde ich mich je über einen aufrichtigen Kindheitswunsch lustig machen? Oder die Obsession eines Erwachsenen? Ich kenne nur zufällig einen ... Wissenschaftler, der vielleicht eine Möglichkeit weiß.«

Er schien mir immer noch zu grollen. »Frag ihn«, bat er, »und laß mich wissen, was er sagt. Ich mag Leute nicht, die sich über mich lustig machen. Das ist nicht nett. Ich mach mich doch auch nicht über dich lustig, oder? Ich erwähne nie, daß du nie die Zeche bezahlst, oder?«

Damit bewegten wir uns auf dünnem Eis. »Ich werde meinen Freund fragen«, sagte ich hastig. »Keine Bange, ich bringe alles in Ordnung.«

Und ich dachte mir, daß ich besser zu meinem Wort stehen sollte. Ich wollte mich nicht um meine kostenlosen Drinks bringen, und ich wollte schon gar nicht Zielscheibe von Baldurs Spott sein. Er glaubte nicht an die biblischen Gebote wie liebe deinen Nächsten, segne alle, die dich verfluchen, tu denen Gutes, die dich hassen. Baldur glaubte daran, daß man solchen Leuten eins auf die Mütze hauen sollte.

Und so konsultierte ich meinen Freund Azazel, der nicht von dieser Welt ist. Habe ich dir je erzählt, daß ich einen ... Habe ich? Nun ja, ich konsultierte ihn.

Azazel war wie immer übelster Laune, als ich ihn herbeirief. Er hielt den Schwanz in einem ungewöhnlichen Winkel abgestreckt, und als ich ihn darauf ansprach, hub er zu einer schrillen, keifenden Tirade über meine Vorfahren an - über Dinge, von denen er unmöglich aus erster Hand wissen konnte.

Ich entnahm seinem Schimpfen, daß man versehentlich auf ihn getreten war. Er ist ein sehr kleines Wesen, von der Schwanzspitze bis zum Scheitel rund zwei Zentimeter groß, daher denke ich, daß er selbst in seiner eigenen Heimat eher zu den Getretenen gehört. Getreten hatte ihn an diesem Tag eindeutig jemand, und die Demütigung, so klein zu sein, daß es nicht einmal bemerkt wurde, hatte eine rasende Wut in ihm entfacht.

»Wenn du die Gabe des Fliegens besäßest, oh Großmächtiger, dem das ganze Universum Achtung zollt«, sagte ich beruhigend, »wärest du nicht den Schmächtigsten unter den Schmächtigen unterlegen.«

Das munterte ihn etwas auf. Er wiederholte den letzten Satz murmelnd, als wollte er ihn sich für die Zukunft einprägen. »Ich kann fliegen, oh häßlicher Klops nichtswürdigen Fleisches«, sagte er dann, »und ich wäre davongeflogen, hätte ich mir denn die Mühe gemacht und auf die Gegenwart des minderwertigen Individuums geachtet, das in seiner Unbeholfenheit gegen mich fiel. - Wie auch immer, welches ist dein Begehr?« Er tauchte regelrecht, als er das sagte, aber mit seiner schrillen Stimme hörte es sich mehr wie ein Summen an.

»Du magst fliegen können, Hochmögender«, sagte ich beschwichtigend, »aber auf meiner Welt gibt es welche, die das nicht können.«

»Auf deiner Welt gibt es gar keine, die das können. Sie sind so garstig anzuschauen, so aufgedunsen und so linkisch wie die meisten Schalidrakonikonier. Wenn du etwas von Aerodynamik verstehen würdest, kümmerliches Insekt, wüßtest du -«

»Ich verneige mich vor deinem Allwissen, o Weisester aller Weisen, doch mir kam der Gedanke, du könntest vielleicht ein winziges Hauchlein Antigravitation bewerkstelligen.«

»Antigravitation? Hast du eine Ahnung -«

»Oh Geistesriese«, sagte ich, »muß ich dich daran erinnern, daß du das schon einmal fertiggebracht hast?«* »Das war, soweit ich mich entsinne, nur eine Teilbehandlung«, sagte Azazel. »Kaum ausreichend, daß sich eine Person über die Spitzen der Verwehungen gefrorenen Wassers hinwegheben konnte, die ihr auf eurer abscheulichen Welt habt. Ich vermeine herauszuhören, daß du mich jetzt um etwas Extremeres bittest.«