Als er die Vergrößerung fertig hatte, legte er ein vollkommen anderes Gebaren an den Tag. Er betrachtete sie und sagte in einem Tonfall, den ich nur als höchst herablassend bezeichnen kann: »Sag nicht, daß du so ein Foto gemacht hast.«
»Warum nicht?« sagte ich und streckte die Hand danach aus, aber er traf keine Anstalten, es mir zu geben.
»Du wirst mehr Abzüge haben wollen«, sagte er.
»Nein, keinesfalls«, sagte ich und sah ihm über die Schulter. Es war ein erstaunlich scharfes Foto in leuchtenden Farben. Kevin O'Donnell lächelte, obwohl ich mich zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht an ein derartiges Lächeln erinnern konnte. Er wirkte gutaussehend und fröhlich, was mich freilich nicht über die Maßen ansprach. Vielleicht hätte eine Frau mehr gesehen - oder ein Mann wie mein Freund, der Fotograf, der, wie es nun mal so ist, seiner Maskulinität nicht ganz so sicher ist wie ich.
»Nur noch einen - für mich«, sagte er.
»Nein«, sagte ich nachdrücklich, nahm das Bild und hielt dabei sein Handgelenk umklammert, damit er es ganz sicher nicht wegziehen konnte. »Und das Negativ, bitte. Du kannst das andere behalten - das von beiden.«
»Das mag ich nicht haben«, sagte er quengelig und schaute kläglich drein, als ich ging.
Ich rahmte das Bild, stellte es auf meinen Kaminsims, trat zurück und betrachtete es. Es hatte wahrhaftig eine strahlende Aura. Azazel hatte gute Arbeit geleistet.
Ich war gespannt, wie Rosie darauf reagieren würde. Ich rief sie an und fragte, ob ich vorbeischauen könnte. Sie wollte gerade einkaufen gehen, aber wenn ich binnen einer Stunde da sein könnte ...
Ich könnte und war. Ich hatte das Foto in Geschenkpapier verpackt und gab es ihr wortlos.
»Meine Güte!« sagte sie, während sie noch den Bindfaden durchschnitt und das Papier aufriß. »Was ist das? Gibt es etwas zu feiern oder -«
Doch dann hatte sie es ausgepackt und verstummte. Ihre Augen wurden groß, ihr Atem ging schneller und stoßweise. Schließlich flüsterte sie: »Herrje!«
Sie schaute zu mir auf. »Hast du dieses Foto letzten Sonntag gemacht?«
Ich nickte.
»Du hast ihn genau getroffen. Er ist anbetungswürdig. Das ist genau der Gesichtsausdruck. Oh, darf ich es bitte behalten?«
»Ich habe es dir mitgebracht«, sagte ich nur.
Sie nahm mich in die Arme und küßte mich fest auf die Lippen.
Was natürlich für einen Menschen wie mich, der Sentimentalität verabscheut, recht unangenehm ist, und ich mußte mir anschließend den Schnurrbart abwischen, aber ich verstand, daß sie dieser Geste nicht widerstehen konnte.
Danach sah ich Rosie etwa eine Woche lang nicht.
Dann begegnete ich ihr eines Nachmittags vor der Metzgerei; es wäre unhöflich gewesen, hätte ich ihr nicht angeboten, ihr die Einkaufstasche nach Hause zu tragen. Logischerweise fragte ich mich, ob das wieder einen Kuß bedeuten würde, und entschied, daß es unhöflich wäre, mich zu weigern, sollte das liebe kleine Ding darauf bestehen. Sie machte jedoch einen leicht niedergeschlagenen Eindruck.
»Was macht die Fotografie?« fragte ich, denn ich befürchtete, es könnte etwas schief gegangen sein.
Sie wurde sofort munter. »Perfekt! Ich habe sie auf mein Phonoregal gestellt, so daß ich sie von meinem Platz im Eßzimmer sehen kann. Seine Augen sehen mich ein bißchen scheel an, so verschmitzt, und er rümpft die Nase genau richtig. Ehrlich, man könnte schwören, daß es lebt. Und einige meiner Freundinnen können die Augen nicht davon lassen. Ich glaube, ich sollte es verstecken, wenn sie kommen, damit sie es nicht stehlen.«
»Sie könnten ihn stehlen«, sagte ich scherzhaft.
Da war die Niedergeschlagenheit sofort wieder da. Sie schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht«, sagte sie.
Ich unternahm einen neuen Anlauf. »Was hält denn Kevin von dem Foto?«
»Er hat kein Wort gesagt. Kein Wort. Er ist kein visueller Mensch, weißt du. Ich frage mich, ob er es überhaupt sieht.«
»Warum machst du ihn nicht darauf aufmerksam und fragst ihn nach seiner Meinung?«
Sie schwieg, während ich einige Zeit an ihrer Seite ging, die schwere Einkaufstasche trug und mich fragte, ob sie außerdem noch einen Kuß erwarten würde.
»Es ist so«, sagte sie, »seine Arbeit nimmt ihn gerade voll und ganz in Anspruch, daher wäre es kein guter Zeitpunkt, ihn zu fragen. Er kommt spät nach Hause und redet kaum mit mir. Du weißt ja, wie Männer sind.« Sie versuchte, unbekümmert zu lachen, schaffte es aber nicht.
Wir hatten ihr Apartmenthaus erreicht, und ich gab ihr die Tasche. »Aber ich danke dir nochmals und von ganzem Herzen für das Foto«, sagte sie wehmütig.
Und damit ging sie dahin. Sie bat mich nicht um einen Kuß, und ich war so in Gedanken, daß es mir erst auffiel, als ich schon auf halbem Weg nach Hause war, und es kam mir albern vor, noch einmal umzukehren, nur damit sie nicht enttäuscht wäre.
Es vergingen noch einmal rund zehn Tage, und dann rief sie mich eines Vormittags an. Ob ich vorbeikommen und mit ihr zu Mittag essen könnte? Ich hielt mich zurück und erklärte ihr, das sei unschicklich. Was sollten die Nachbarn denken?
»Ach, Unsinn«, sagte sie. »Du bist so unglaublich alt -ich meine, so ein unglaublich alter Freund, daß sie unmöglich denken könnten ... Außerdem brauche ich deinen Rat.« Mir schien, als würde sie ein Schluchzen unterdrücken, als sie das sagte.
Man muß stets Gentleman sein, daher fand ich mich zur Mittagszeit in ihrem sonnigen kleinen Apartment ein. Sie hatte Schinken-Käse-Sandwiches und ein paar Stücke Apfelkuchen vorbereitet, und das Foto stand, wie sie gesagt hatte, auf dem Phonoregal.
Sie gab mir die Hand und versuchte nicht, mich zu küssen, was mich erleichtert hätte, wäre ich angesichts ihres Äußeren nicht zu bestürzt gewesen, um Erleichterung zu empfinden. Sie sah vollkommen verhärmt aus. Ich aß ein halbes Sandwich, während ich darauf wartete, daß sie etwas sagte, da sie aber nicht den ersten Schritt machte, war ich schließlich gezwungen, sie unverblümt zu fragen, warum sie eine solche Aura der Niedergeschlagenheit verbreitete.
»Geht es um Kevin?« fragte ich. Ich war ganz sicher.
Sie nickte und brach in Tränen aus. Ich tätschelte ihre Hand und fragte mich, ob das genügen würde. Ich streichelte unbeteiligt ihre Schulter, bis sie schließlich sagte: »Ich fürchte, er verliert seinen Job.«
»Unmöglich. Warum?«
»Also, er ist so wild, offenbar selbst bei der Arbeit. Er hat seit Ewigkeiten nicht mehr gelächelt. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann er mich zuletzt geküßt oder ein freundliches Wort für mich übrig gehabt hätte. Er streitet mit jedem, und zwar ständig. Er will mir nicht sagen, was los ist, und wird wütend, wenn ich danach frage. Ein Freund von uns, der mit Kevin am Flughafen arbeitet, rief gestern an. Er sagt, Kevin benimmt sich bei der Arbeit so verdrossen und mißmutig, daß es sogar den Abteilungsleitern auffällt. Ich bin sicher, daß er seinen Job verliert, aber was kann ich tun?«.
An sich hatte ich seit unserer letzten Begegnung etwas Derartiges erwartet und wußte, daß ich ihr die Wahrheit sagen mußte - verdammter Azazel. Ich räusperte mich. »Rosie - die Fotografie ...«
»Ja, ich weiß«, sagte sie, hob sie hoch und drückte sie an den Busen. »Sie gibt mir Kraft. Dies ist der wahre Kevin, den werde ich immer haben, immer, ganz gleich, was geschieht.« Sie fing an zu schluchzen.
Es fiel mir sehr schwer, zu sagen, was gesagt werden mußte, aber es gab keine andere Möglichkeit. »Du verstehst nicht, Rosie. Die Fotografie, sie ist das Problem. Ich bin ganz sicher. Der Charme und die Fröhlichkeit auf dieser Fotografie müssen irgendwoher kommen. Sie müssen Kevin selbst genommen worden sein. Begreifst du nicht?«