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Bremer starrte das Funkgerät in seiner Hand für einen Moment lang so feindselig an, als trüge es ganz allein die Schuld an dem ganzen Fiasko. Er hatte plötzlich Lust, es auf den Boden zu werfen und kräftig darauf herumzutrampeln. Statt dessen drückte er erneut die Sprechtaste und sagte in resignierendem Ton: »Also gut. Ich werde sehen, was ich tun kann. Nehmt euch mittlerweile schon mal die Nachbarn vor. Vielleicht haben sie ja irgend etwas gesehen oder gehört.«

Er schaltete ab, steckte den Apparat achtlos in die Jackentasche und ging zu seinem Streifenwagen zurück. Der Passat stand mit offener Heckklappe und noch immer zuckendem Blaulicht nicht weit hinter dem Krankenwagen, und zumindest hier funktionierte die psychologische Barriere, die das Blaulicht und die Signalfarben des Wagens bilden sollten. Natürlich war auch diese Seite der Straße von Neugierigen belagert, doch sie hielten einen deutlichen Abstand zu den beiden Fahrzeugen. Als Bremer näher kam, wichen einige der zuvorderst Stehenden sogar vor ihm zurück oder versuchten es zumindest, bis sie von den Gaffern hinter ihnen aufgehalten wurden. Die meisten senkten hastig den Blick, als sie ihn bemerkten, oder machten sich auf irgendeine andere Weise zum Narren. Wahrscheinlich wären sie alle sehr erstaunt gewesen, hätten sie gewußt, wie Bremer wirklich über sie dachte - nämlich so gut wie gar nichts. Am Anfang war er sehr erbost gewesen, wenn Verbrechen, Gewalttätigkeit oder einfach der Anblick eines Unfalls Neugierige in Scharen anzogen. Doch mit den Jahren hatte sich diese gerechte Empörung gelegt, und mittlerweile nahm Bremer sie gar nicht mehr zur Kenntnis. Unfälle und Gewalt zogen Neugierige an, so war das nun einmal. Bremer hatte gelernt, sie zu ignorieren, solange sie seine Arbeit nicht zu sehr behinderten.

Er öffnete die Beifahrertür, streckte die Hand nach dem Funkgerät aus, und im gleichen Moment meldete sich der Apparat von sich aus. Bremer lächelte flüchtig über diesen Zufall, drückte die Sprechtaste und meldete sich.

Es war die Zentrale. Im Hintergrund der Verbindung, die - obwohl über viel größere Entfernung - ungleich klarer war als die gerade zu Clausen, hörte er das übliche Stimmengewirr, Telefonklingeln und elektronische Piepsen der Funkleitstelle.

»Gut, daß ihr euch meldet«, begann er. »Wir brauchen hier einen Schlosser. Und bevor ihr es sagt - ich weiß, wie spät es ist. Aber es ist wohl nötig. Der Hausmeister kriegt die Tür nicht auf.«

»Okay, wir schicken den Schlüsseldienst und -«

»Damit wird es kaum getan sein«, fuhr Bremer fort. »Clausen meint, er sollte ein Schweißgerät mitbringen, und jetzt frag mich bloß nicht, warum. Anscheinend handelt es sich um eine etwas stabilere Tür.«

»Ich sehe zu, was ich machen kann«, versprach sein Kollege nach einem Moment verblüfften Schweigens. »Aber ihr solltet trotzdem euer Möglichstes versuchen. Ihr bekommt nämlich gleich hohen Besuch. Sendig ist auf dem Weg zu euch.«

»Sendig?« Bremer richtete sich überrascht im Sitz auf. »Der Alte selbst!«

»Sieht so aus. Ich schätze, daß er in zehn Minuten bei euch ist, vielleicht sogar eher.«

»Aber wieso?« murmelte Bremer verstört. Die Frage galt sehr viel weniger dem Mann in der Funkleitzentrale als ihm selbst. Einmal ganz davon abgesehen, daß niemand im Revier Sendig möchte - genaugenommen kannte Bremer auch sonst nirgendwo jemanden, der das getan hätte -, war Sendig nicht irgendein Kriminalbeamter, sondern der Leiter der Mordkommission. Und so ganz nebenbei, beliebt oder nicht, einer der unbestritten fähigsten Kriminalbeamten der Stadt. »Das ist doch nur ein ganz normaler Selbstmord - was hat Sendig damit zu tun?«

»Keine Ahnung. Er war wohl zufällig hier, als die Meldung reinkam. Ich hab's selbst nicht miterlebt, aber als er die Adresse gehört hat, muß er wie eine Rakete in die Luft gegangen sein, Ich dachte mir, das interessiert euch vielleicht.«

»Stimmt«, antwortete Bremer verwirrt. »Danke für die Warnung. Und denkt an den Schlosser!«

Er schaltete das Gerät aus, ohne sich abzumelden, und stieg aus dem Wagen. Er war vollkommen verwirrt und sehr viel bestürzter, als er zugeben wollte. Sendig war ein Ekel, daran führte kein Weg vorbei, aber er war ein tüchtiges Ekel, und schon gar keines, das seine Zeit damit vergeudete, sich wichtig zu machen. Zehn Minuten nach zwei war keine Uhrzeit für einen Mann wie ihn, sich zu produzieren. Wenn er hierherkam, dann hatte er einen Grund.

Bremer warf die Wagentür mit einem Knall ins Schloß, machte drei Schritte auf das Haus zu, von dessen Balkon der Selbstmörder gesprungen war, und bog dann noch einmal ab, um zu Hansen zu gehen. Er mußte den demolierten Mercedes dazu umrunden, und er tat es in größerem Abstand, als nötig gewesen wäre, denn der Anblick erfüllte ihn noch immer mit einem fast körperlichen Unbehagen. Es war erstaunlich, dachte Bremer, welchen Schaden etwas so Weiches wie ein menschlicher Körper anrichten konnte, wenn es nur aus genügend großer Höhe fiel. Der Wagen war vollkommen zertrümmert. Das Dach war eingedrückt, als wäre ein Panzer darüber hinweggerollt, und nicht eine einzige Scheibe war heil geblieben. Überall klebte erst halb eingetrocknetes Blut, und der Anblick seines Kollegen, der auf der anderen Seite des Wagens im Rinnstein hockte, trug auch nicht unbedingt dazu bei, Bremers Stimmung zu heben.

Hansen hatte aufgehört, sich zu übergeben, aber er sah noch immer aus, als wäre er mehr tot als lebendig. Sein Gesicht war kreidebleich, seine Hände zitterten ununterbrochen. Eine schweißnasse Haarsträhne hing ihm ins Gesicht, was seinem Blick etwas Irres gab, fand Bremer.

Zwei Schritte vor ihm blieb er stehen, sah einen Moment auf ihn herab und ließ sich dann in die Hocke sinken, damit sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden. Er ersparte sich die Frage, ob alles in Ordnung war - das wäre nicht einmal ein schlechter Witz gewesen in diesem Augenblick -, sondern wartete darauf, daß Hansen von sich aus das Wort ergriff. Aber der Junge schwieg. Er starrte ihn nur an, und das auf eine Art, die Bremer einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Sein Blick flackerte und schien irgendwie durch ihn hindurchzugehen, auf einen Punkt weit hinter ihm gerichtet, und was immer er dort sehen mochte, war nichts Angenehmes.

Zum ersten Mal, seit dieser Alptraum begonnen hatte, machte sich Bremer wirklich Sorgen um Hansen. Bisher war er selbst viel zu schockiert gewesen, um mehr als einen flüchtigen Gedanken an seinen jüngeren Kollegen zu verschwenden. Mitleid aufzubringen, wenn man im Grunde selbst welches brauchte, war nicht ganz einfach. Aber der Anblick des zitternden Häufchens Elend vor ihm machte ihm mit erschreckender Deutlichkeit klar, um wieviel jünger Hansen war. Dreiundzwanzig - im Grunde noch nicht viel mehr als ein Kind, dem man eine grüne Uniform und eine Waffe gegeben hatte und das Versprechen, damit schon gegen alles gefeit zu sein.

Und das stimmte einfach nicht. Hansen war seit einem halben Jahr auf der Straße, und er hatte garantiert noch nichts Derartiges erlebt... Was von dem Selbstmörder nicht an seiner Uniform klebte, das hatte sich vor seinen Augen auf dem Wagendach verteilt. Ein einziger Blick in Hansens Augen reichte Bremer, um zu wissen, daß er diesen Schock vielleicht niemals wirklich verwinden würde.

Mit einem Mal empfand er Mitleid. Aber selbst jetzt war es nur ein schwaches Gefühl. Viel stärker war der Zorn, der plötzlich in ihm emporkochte. Ein Zorn, der dem Verrückten galt - nein, dem Verbrecher, der sich vor ihren Augen vom Balkon gestürzt und damit vielleicht nicht nur sein eigenes Leben zerstört hatte, sondern auch das dieses Jungen, der einfach noch ein paar Jahre gebraucht hätte, um mit etwas wie dem hier fertig zu werden.

Er war eigentlich gekommen, um nach Hansen zu sehen und ihm von Sendigs bevorstehender Ankunft zu berichten und ihm zugleich den Rat zu geben, sich ein bißchen am Riemen zu reißen. Aber das ersparte er sich. Statt dessen fragte er in einem Ton, der selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich sanft war: »Kannst du aufstehen?«