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»Der Todesengel?«

»Auch«, sagte Sendig. »Aber in diesem Fall nicht. Es ist der Name einer Droge. Ich weiß nicht alles darüber, aber genug, um mir den Rest zusammenreimen zu können. Löbach und Sillmann haben sie gemeinsam entwickelt. Ich glaube, sie hatten vor, so etwas wie eine unschädliche Ersatzdroge zu entwickeln, eine Art Methadon, vielleicht sogar wirklich in bester Absicht. Aber herausgekommen ist etwas ganz anderes. Inwieweit kennen Sie sich mit Drogen aus, Bremer?«

»Soweit mein Job es verlangt«, antwortete Bremer. Nach einer Sekunde fügte er hinzu: »Nicht besonders.«

»Aber Sie wissen immerhin, daß es Drogen gibt, die das Bewußtsein auf eine ganz bestimmte Weise verändern?« fragte Sendig. »Ich meine, sie erzeugen nicht nur Halluzinationen, sondern... erweitern Ihr Bewußtsein.«

»Das sagt man«, sagte Bremer. »Aber ich glaube es nicht.«

»Glauben Sie es ruhig«, antwortete Sendig. »AZRAEL wirkt jedenfalls genau so. Sie gehen auf einen Trip, aber es ist ein ganz besonderer Trip. Sehen Sie - Sillmann und Löbach haben am Anfang wahrscheinlich nicht einmal selbst gewußt, was sie da gefunden haben, aber ich denke, es muß ihnen sehr schnell klargeworden sein. AZRAEL war nicht irgendein Acid, das man sich einwirft, sondern ein...« Er suchte nach Worten und zog zwischendurch nervös an seiner Zigarette. »Haben Sie schon einmal von Peyote gehört?«

Bremer verneinte.

»Eine Droge, die - unter anderem - die südamerikanischen Indianer konsumieren«, sagte Sendig. »Nehmen Sie sie allein, wirkt sie wie irgendeine Droge. Aber in der Gruppe eingenommen, und vor allem über längere Zeit, bewirkt sie tatsächlich eine Art von Gemeinschaftserlebnis.«

»Sie meinen, gemeinsame Halluzinationen?« vergewisserte sich Bremer.

»Auch«, bestätigte Sendig. Er seufzte. »Aber nicht nur. Wenn ein paar Leute das Zeug gemeinsam einnehmen, dann werden sie irgendwie... eins. Sie haben die gleichen Gefühle, die gleichen Gedanken.«

»Das klingt ein bißchen phantastisch, finden Sie nicht?« fragte Bremer.

»Ich habe es ausprobiert«, sagte Sendig.

Das Eingeständnis überraschte Bremer nicht einmal. »Und AZRAEL?«

»Hatten Sie einmal einen VW-Käfer oder eine Ente?« fragte Sendig.

Bremer nickte. »Ja. Aber -«

»Dann wissen Sie, wie Peyote wirkt«, sagte Sendig. »Und jetzt versuchen Sie sich einen Ferrari Testarossa daneben vorzustellen oder eine Mondrakete, und Sie haben AZRAEL. Sillmann und Löbach haben eine Droge entwickelt, mit der sich die Gefühle einer beliebigen Gruppe von Menschen verschmelzen lassen - und wahrscheinlich nicht nur ihre Gefühle. Und sie kann noch mehr. Haben Sie AZRAEL einmal eingenommen und sich daran gewöhnt, dann können Sie jedes Gefühl - Liebe, Haß, Angst, Glück - bis ins Unermeßliche steigern. Aber Löbach und Sillmann fanden noch etwas anderes, höchst Erstaunliches heraus: Nahm eine Gruppe von Menschen gemeinsam AZRAEL, dann dominierten die Gefühlswünsche desjenigen, der die höchste Dosierung eingenommen hatte, die veränderten Gefühle der ganzen Gruppe. Begreifen Sie, was das bedeutet?«

»Nicht.... genau«, sagte Bremer - obwohl er es nur zu genau verstand.

»Die totale Kontrolle«, sagte Sendig. »Sie werden im Grunde nicht wirklich süchtig nach der Droge. Sie werden süchtig nach dem, der die Gruppe beherrscht. Er wird Ihr Gott. Er kann Ihnen befehlen, was er will, und er muß Sie nicht einmal zwingen, seinen Wünschen zu gehorchen - weil Sie eigentlich er sind. Es gibt eine Menge Drogen, die die Persönlichkeit verändern. Aber AZRAEL kann sie auslöschen und Ihnen eine andere geben, ohne daß es irgend jemand bemerkt Nicht einmal Sie selbst.«

»Das würde bedeuten -«

»Die absolute Macht«, sagte Sendig. »Der Höchstdosierte konnte seine Gefühle den anderen Mitgliedern der Gruppe einfach aufzwingen... Für das Militär ließen sich da äußerst interessante Anwendungsmöglichkeiten vorstellen. Leider machte Löbach in seinem Forschungseifer einen verhängnisvollen Fehler. Um endlich mit genügend Menschen experimentieren zu können, redete er seiner drogenbegeisterten Freundin ein, man könnte mit der harmlosen Droge - vergessen Sie nicht, AZRAEL macht nicht süchtig, zumindest nicht physisch - die Lernfähigkeit von Menschen steigern und bereite abhängige Jugendliche heilen. So entstand eine Art Meditationsgruppe größtenteils drogensüchtiger Jugendlicher, die unter Löbachs Aufsicht auf AZRAEL umprogrammiert wurden - wobei Löbach die anderen völlig dominierte. Er erzielte erstaunliche Erfolge. Es dauerte nicht lange, bis das Gerücht von einer neuen Wunderdroge die Runde machte. So etwas war damals allerdings fast alltäglich. Sie wissen ja, wie das vor ein paar Jahren war. Jede Woche brachte irgendein verrückter Chemiestudent eine neue Designer-Droge auf den Markt. Trotzdem - ich war damals schon hinter Löbach her, aber ich konnte ihm nie etwas beweisen. Heute ist mir klar, warum. Er hatte Freunde. Ziemlich mächtige Freunde, die ihn gedeckt haben.«

»Und was hat er damit zu tun?« Bremer deutete auf Mark. »Ich meine - als die ganze Geschichte passierte, da kann er doch noch gar nicht gelebt haben.«

»Stimmt«, sagte Sendig. »AZRAEL war trotz allem ein Fehlschlag. Sie kamen erstaunlich weit, aber Löbachs Ziel, die totale Kontrolle, haben sie nie erreicht. Ich weiß nicht, was schiefging. Irgend etwas fehlte vielleicht... Keine Ahnung. Jedenfalls versiegte Sillmanns Geldquelle irgendwann, und ich nehme an, sie haben ihm auch zu verstehen gegeben, daß sie ihn nicht weiter decken würden. Auf jeden Fall haben sie aufgehört. Für eine Weile wenigstens.«

»Aber spätestens dann hätten Sie ihn schnappen können«, sagte Bremer.

»Löbach?« Sendig lachte. »Sie kennen unsere BMW-fahrenden Freunde nicht. Einmal dabei, immer dabei. Sie haben ihm auf die Finger geklopft, aber glauben Sie wirklich, sie hätten zugelassen, daß ein kleiner Polizeibeamter wie ich anfängt, ihn zu verhören? Ich hätte eine Menge unangenehmer Fragen stellen können - und sie hätten vielleicht nicht nur Löbach und Sillmann betroffen.«

»Aber irgendwann hat er dann wieder angefangen«, vermutete Bremer.

»Er hat nie aufgehört«, verbesserte ihn Sendig. »Er war nur vorsichtiger. Und sie haben etwas gesucht. Etwas ganz Bestimmtes. Und schließlich haben sie es gefunden.« Er deutete auf Mark. »Ihn.«

»Was?«

»Er ist etwas Besonderes«, sagte Sendig. »Verstehen Sie mich nicht falsch - er ist weder Superboy noch irgendeine Art Wunderkind. Aber er war da, und er war jederzeit und völlig gefahrlos greifbar.«

Bremers Augen weiteten sich vor Unglauben, als er begriff, was Sendig meinte. »Moment«, sagte er. »Sie... Sie wollen behaupten, Sillmann hätte mit seinem eigenen Kind experimentiert?«

»Schockiert Sie das?« fragte Sendig ruhig. »Bremer, in welcher Welt leben Sie? Wissen Sie überhaupt, wozu Menschen fähig sind?«

»Aber das ist...«

»Ungeheuerlich?« schlug Sendig vor. »Unmenschlich? Grausam? Möglich. Ich werde Sillmann fragen, wenn wir ihn treffen. Vielleicht hatte er auch andere Gründe, wer weiß. Ich habe das alles nicht auf einmal herausgefunden. Ich trage seit sechs Jahren Stücke eines Puzzlespieles zusammen, und ich habe längst nicht alle gefunden. Aber was ich weiß, ist, daß Löbach und Sillmann offensichtlich mit dem Jungen experimentiert haben. Sie haben eine neue Version von AZRAEL gebastelt - sozusagen eine Mark-Sillmann-Version.«

»Das verstehe ich nicht«, gestand Bremer.

»Drogen wirken auf die Körperchemie des Menschen«, sagte Sendig. »Und dieses neue AZRAEL, das Löbach entwickelt hat, wirkte ganz gezielt auf die des Jungen. Er muß die Droge sozusagen maßgeschneidert haben. Die Idee war nicht einmal besonders neu, aber Löbach und Sillmann waren die ersten, die sie in die Tat umgesetzt haben. An ihren eigenen Kindern. Mark Sillmann und Claudia Löbach. Und soviel ich weiß, hatten sie Erfolg.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Wahrscheinlich mehr, als sie wollten. Das gehört zu den Mosaiksteinen, die mir noch fehlen. Ich weiß nicht, was genau geschehen ist. Löbach muß wohl eine neue AZRAEL-Gruppe gegründet haben. Mark, Claudia und noch sechs oder sieben andere Kinder, alle ungefähr im gleichen Alter. Ich schätze, daß es ein, zwei Jahre lang gutgegangen ist.«