»Und dann?«
»Irgend etwas ist passiert«, antwortete Sendig. »Niemand weiß genau, was. Irgend etwas... Unvorstellbares. Sie haben es ja selbst gesehen. Irgend etwas ist schiefgegangen, aber ich weiß nicht, was. Und ich bin ziemlich sicher, daß Löbach und Sillmann es auch nicht genau wußten. Auf jeden Fall waren vier von ihnen tot - und der Rest vielleicht noch schlimmer dran.« Er sah wieder auf Mark herab, und es vergingen lange Sekunden, bis er weitersprach. »Aber was immer es war - es hat mit ihm zu tun.«
»Wieso?« fragte Bremer.
Sendig lachte bitter. »Mann, ich denke, Sie sind Polizeibeamter! Zählen Sie zwei und zwei zusammen. Er war nicht mehr in diesem Keller, als wir gerufen wurden, oder?«
»Sillmann wird ihn weggeschafft haben«, vermutete Bremer.
»Natürlich hat er das«, sagte Sendig. »Aber er ist auch der einzige, der nicht den Verstand verloren hat, nicht wahr? Er ist einfach verschwunden. Und jetzt taucht er nach sechs Jahren wieder auf, und plötzlich scheint alles von vorne loszugehen. Ich weiß, es fällt schwer, es zu glauben, wenn man ihn so da liegen sieht, aber ich schätze, daß dieser harmlose Junge die anderen auf dem Gewissen hat. Auch wenn es nicht seine Schuld ist.«
»Was ist... mit dem Mädchen geschehen?« fragte Bremer schleppend. Er hatte Mühe, sich auf das Sprechen zu konzentrieren. Sendigs Geschichte schockierte ihn zutiefst. Er wußte, daß Menschen zu den furchtbarsten Dingen imstande waren, aber das war... monströs.
»Bis vor ein paar Stunden hatte ich keine Ahnung«, sagte Sendig. »Das war einer der fehlenden Steine. Ich habe mich die ganze Zeit über gefragt, warum er es überstanden hat und das Mädchen nicht. Bis ich die Cassette in Artners Wohnung gesehen habe. Das Mädchen auf dem Film ist Claudia Löbach. Sie ist ein paar Jahre älter geworden, aber es gibt gar keinen Zweifel.«
»Oh«, sagte Bremer. »Jetzt verstehe ich, warum Sie so erschrocken waren, als ich sie wiedererkannt habe.«
»Sie verstehen?« Sendig lachte leise. Ohne sich zu Bremer herumzudrehen oder den Blick auch nur eine Sekunde von Marks Gesicht zu wenden, sagte er. »Das glaube ich nicht, Bremer. Das Mädchen auf dem Videoband und die Kleine, mit der sich Mark in der Klinik getroffen hat, sind ein und dieselbe Person, sagen Sie?«
»Ja«, antwortete Bremer. »Was... was soll das? Sie haben sie doch auch gesehen, als sie zusammen aus Sillmanns Haus gekommen sind. Sie ist es.«
»Aber das ist nicht möglich«, erwiderte Sendig. Ganz langsam drehte er sich nun doch zu Bremer herum und sah ihn durchdringend an. »Da ist noch eine Kleinigkeit, die ich Ihnen nicht erzählt habe. Sie haben heute morgen nicht nur Professor Artners Leiche in der Zelle gefunden, sondern auch ihre. Sie ist im gleichen Moment gestorben wie er. Claudia Löbach ist seit zweiundzwanzig Stunden tot.«
37. Kapitel
Er hatte die Schritte bereits gehört, als sie die Treppe heruntergekommen waren, aber Sillmann drehte sich erst herum, als die Männer den Keller betraten. Sie waren zu dritt - Berger und zwei andere, die er nicht kannte, die sich aber auf die gleiche Weise ähnelten wie alle, die er jemals in Bergers Begleitung gesehen hatte. Sie waren groß und kräftig, und ihre kantigen Gesichter und der harte Ausdruck in den Augen suggerierten eine fehlende Intelligenz, die sehr wohl da war, sich nur sorgsam verbarg. Männer wie Berger würden keine Dummköpfe in ihrer Nähe dulden. Vielleicht war das, was er für einen Ausdruck mangelnder Intelligenz hielt, auch nur der Blick von Männern, denen sorgsam und mit Erfolg jede Spur von Gewissen wegtrainiert worden war.
»Sie kommen spät«, sagte er. »Ich habe schon eher mit Ihnen gerechnet.« Berger - der Name klang so falsch, daß er beinahe schon wieder echt sein konnte - funkelte ihn zornig an. Seine Augen wirkten intelligent, aber auf eine Art, die Sillmann von der ersten Sekunde ihrer Bekanntschaft an angst gemacht hatte und es noch immer tat.
»Es gab... ein paar Schwierigkeiten«, sagte er.
»Schwierigkeiten?« Sillmann lächelte dünn. »Hat er ihre Männer abgehängt?«
In Bergers Augen blitzte es noch wütender auf, aber noch beherrschte er sich. »Ja«, sagte er gepreßt. »So könnte man es nennen.«
»Er hat sie umgebracht«, vermutete Sillmann. Diesmal antwortete Berger nicht.
Statt dessen kam er mit langsamen Schritten näher, blieb zwei Meter vor Sillmann stehen und deutete auf Petri, der zusammengekauert in einer Ecke saß und aus leeren Augen in die Unendlichkeit starrte. »Was ist mit ihm?« fragte er.
»Er hat auch Schwierigkeiten«, antwortete Sillmann. Er hatte die linke Hand noch immer in der Manteltasche, und sie umklammerte noch immer den Griff der kleinen Pistole, die er vorhin aus dem Handschuhfach genommen hatte. Er hatte die Waffe entsichert, als er Bergers Schritte draußen auf der Treppe hörte, aber er bezweifelte trotzdem, daß sie ihm etwas nutzen würde. Die beiden Burschen hinter Berger beobachteten ihn mißtrauisch, und Sillmann wußte, wie gefährlich diese Männer waren. Einer von beiden würde ihn wahrscheinlich erwischen, entweder mit einer Waffe oder sogar mit bloßen Händen. Sillmann beschloß, Berger als ersten zu erschießen, wenn es sein mußte.
»Sie hatten schon immer einen Hang zu melodramatischen Szenen, wie?« fragte Berger. »Konnten Sie sich keinen anderen Ort für dieses Treffen aussuchen?«
Sillmann sah jetzt, daß das, was er für mühsam unterdrückten Zorn gehalten hatte, in Wahrheit Nervosität war. Die Erkenntnis überraschte ihn. Berger hatte niemals irgendeine menschliche Regung gezeigt, die über Ärger oder Hohn hinausging, so lange sie sich kannten. Aber vermutlich hatte er so etwas wie heute auch noch nie erlebt. Sillmann war jetzt sicher, daß er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. Bergers Männer waren tot.
»Das hier ist der einzige Ort«, sagte er. »Er wird hierherkommen.«
»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Berger.
»Ich weiß es eben«, antwortete Sillmann. »Sind Sie allein, oder haben Sie draußen noch Leute postiert?«
»Natürlich«, sagte Berger voller Zynismus. »Die komplette GSG 9 ist auf dem Gelände verteilt, und über den Wolken wartet eine Hubschrauberstaffel auf den Einsatzbefehl.« Er lachte. »Keine Angst - wir werden mit ihm fertig. Wofür halten Sie diesen Jungen? Für Superman?«
Ich wollte, ich wüßte es, dachte Sillmann. Laut sagte er: »Die Frage ist, wofür Sie ihn halten.«
»Ich?« Berger machte erregt einen Schritt auf ihn zu und gleich wieder zurück - vielleicht die Sicherheitsdistanz eines Menschen, der es gewohnt war, nicht nur mit Worten zu kämpfen. »Das werde ich Ihnen sagen, Sillmann! Ich halte ihn für genau das, was er ist - ein Monstrum, ein gefährlicher Geisteskranker, ein Amokläufer. Und genauso werden wir ihn behandeln, wenn er hier auftaucht.«
»Sie werden ihn nicht anrühren«, sagte Sillmann ruhig. »Er ist mein Sohn.«
»Ja, das hat Frankenstein damals wahrscheinlich auch gesagt«, antwortete Berger zynisch. »Er ist ein verdammtes Ungeheuer! Und Sie haben es erschaffen. Sie und dieser Idiot Löbach. Ihr Sohn? Er kann sein, wer er will. Für mich ist er ein Monster, und genauso werden wir ihn auch behandeln, wenn er herkommt. Er hat fünf meiner Leute umgebracht, einfach so.«