»Sie wollen ihn töten«, sagte Sillmann ruhig. Er schüttelte den Kopf und sah sekundenlang nachdenklich auf die zusammengekauerte Gestalt an der Wand neben sich herab. »Davon abgesehen, daß ich nicht glaube, daß Sie das schaffen - dann wäre alles umsonst gewesen.«
»Hören Sie auf, Sillmann!« fauchte Berger. »Das zieht nicht mehr. Sie haben uns lange genug hingehalten.«
»Ich werde nicht -«
»Sie werden gar nichts mehr!« fiel ihm Berger in schneidendem Tonfall ins Wort. »Es ist vorbei, haben Sie das immer noch nicht begriffen? Das Projekt ist gestoppt. Wir sind hier, um die Akte endgültig zu schließen, aus keinen anderen Grund. Was denken Sie, habe ich vor - zuzusehen, wie er weiter durch die Gegend rennt und Menschen umbringt?«
»Aber ich kann ihn aufhalten!« sagte Sillmann.
Berger schnaubte. »Oh, das können wir auch. Und, mit Verlaub gesagt, besser.«
»Sie verstehen nicht«, sagte Sillmann. Er blieb noch immer ganz ruhig, sowohl nach außen als auch innerlich. Sie sprachen hier über seinen Sohn, sein eigenes Kind, und trotzdem empfand er nicht einmal wirklichen Schrecken bei dem Gedanken, daß Berger und seine beiden Begleiter hier waren, um ihn zu töten. Er würde es nicht zulassen, so einfach war das.
»Ich verstehe was nicht?« fragte Berger spöttisch. »Daß Sie uns seit sechs Jahren an der Nase herumführen? Wieviel haben Sie aus Washington kassiert, Sillmann? Fünf Millionen? Zehn? Oder war es mehr?«
»Darum geht es nicht«, sagte Sillmann. »Begreifen Sie doch! Damals war er einfach noch nicht soweit, aber jetzt ist er es! Er ist genau das, was Sie haben wollten!«
»Was?« fragte Berger. »Ist er der Terminator oder Alien?«
»Sie sind ein Idiot, Berger«, sagte Sillmann ruhig. »Sie haben nie verstanden, worum es wirklich ging, nicht wahr?«
»Ich verstehe immerhin, was dabei herausgekommen ist«, antwortete Berger. Die Beleidigung schien er nicht einmal zu registrieren. »Und ich werde es beenden.«
»Sie wollen tatsächlich aufgeben?« fragte Sillmann. »Jetzt? Nicht fünf Minuten bevor, sondern nachdem wir Erfolg gehabt haben?«
»Es ist vorbei, Sillmann«, sagte Berger noch einmal. »Endgültig.«
»Ja«, sagte Sillmann leise. »Das fürchte ich auch.«
Er beging nicht den Fehler, die Waffe zu ziehen, sondern feuerte durch den Stoff der Manteltasche hindurch. Die erste Kugel traf den Mann links von Berger und tötete ihn auf der Stelle, und der andere reagierte genau so, wie Sillmann erwartet hatte: Er versuchte nicht, eine Waffe zu ziehen, sondern warf sich mit einer blitzartigen komplizierten Drehbewegung nach rechts, die ihn zugleich aus der Schußbahn als auch in eine Position gebracht hätte, aus der heraus er Sillmann angreifen konnte.
Es wäre ihm zweifellos auch gelungen, hätte Berger nicht falsch reagiert. Er machte einen erschrockenen Schritt zurück und prallte gegen ihn. Der Mann geriet für einen winzigen Moment aus dem Gleichgewicht. Er fing sich sofort wieder, aber seine Bewegungen hatten etwas von ihrer Eleganz und Schnelligkeit verloren. Nicht viel, aber genug für Sillmann, die Pistole aus der Manteltasche zu ziehen und zweimal hintereinander abzudrücken.
38. Kapitel
»Sie wissen, daß das unmöglich ist«, sagte Bremer. Er wunderte sich selbst über die Ruhe in seiner Stimme, und zugleich fragte er sich, warum er eigentlich nicht laut über seine eigenen Worte lachte. Unmöglich? Es war genau umgekehrt. Wieviel von dem, was er in den vergangenen vierundzwanzig Stunden erlebt hatte, war eigentlich möglich? Sendig machte sich auch nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten.
Bremers Hände zitterten immer stärker. Seit Sendig zurückgekommen war, war die hysterische Furcht nicht mehr ganz so schlimm; er war nicht mehr allein, und er fühlte sich auf eine wenn auch vollkommen unlogische Art sogar sicherer, seit er wußte, daß das, was mit ihm geschah, irgendwie mit dem bewußtlosen Jungen auf der Trage zu tun hatte - vielleicht, weil es ihm trotz allem immer noch nicht gelang, ihn als seinen Feind zu betrachten. Wenn Sendig recht hatte (verdammt noch mal, das konnte er nicht! Was er erzählte, war schlechte Sciencefiction, mehr nicht), dann war Mark ungefähr so harmlos wie eine Bombe mit tickendem Zeitzünder, dessen Zifferblatt er nicht lesen konnte, und trotzdem war alles, was er für ihn empfand, ein Gefühl tiefen Mitleids, und wenn er überhaupt Zorn verspürte, dann nur auf die, die ihm das alles angetan hatten: Marks Vater, Löbach und die Männer in den blauen Wagen.
Dafür machte ihm etwas anderes zu schaffen, und das war vielleicht schlimmer. Er begann den Bezug zur Realität zu verlieren. Er wußte nicht mehr, was wirklich war und was Vision. Die Schatten, die ihn verfolgten, die Männer, gegen die er gekämpft hatte - was davon hatte er wirklich erlebt und was nicht? Für einen Moment fragte er sich, ob der ganze zurückliegende Tag vielleicht nicht mehr als ein Alptraum gewesen sei, ein Traum, aus dem er einfach nicht aufwachen konnte, ganz egal, wie sehr er es auch versuchte. Irgend etwas kratzte an der Außenseite des Wagens. Das Geräusch war sehr leise, kaum wirklich hörbar, aber es jagte Bremer einen eisigen Schauer über den Rücken. Er wußte, was es war.
Sendig sog wieder an seiner Zigarette, hustete und reagierte nun doch auf seine Worte. »Ja. Genauso unmöglich wie das, was Mogrod zugestoßen ist. Oder Ihrem Kollegen Hansen. Oder Löbach. Artner... Soll ich weitermachen? Sie sind alle tot, Bremer. Alle, die damals dabei waren.«
»Alle außer Ihnen«, sagte Bremer. »Jetzt verstehe ich endlich. Das ist der Grund, weshalb Sie plötzlich Ihr Gewissen wiederentdeckt haben, nicht? Ihr Name steht auch auf der Liste. Und mittlerweile wahrscheinlich ganz oben!«
»Und wenn?« fragte Sendig. »Ist es ein Verbrechen, überleben zu wollen?«
»Manchmal ja«, antwortete Bremer. »Es kommt auf die Umstände an. Und darauf, was es kostet. Und ich habe Ihnen tatsächlich geglaubt! Sie haben mir etwas von Ihrem Gewissen erzählt und davon, daß Sie sich nicht noch einmal kaufen lassen wollen. Aber das war alles gelogen. Sie hatten einfach nur Angst.«
»Ja«, gestand Sendig. »Aber es war trotzdem nicht gelogen. Es war einer von zwei Gründen. Was ich Ihnen heute morgen erzählt habe, war die Wahrheit, glauben Sie es, oder lassen Sie es bleiben.«
»Sie sind ein verdammter Feigling«, murmelte Bremer. »Was mit dem Jungen passiert oder Hansen oder mir, ist Ihnen doch völlig egal!«
»Haben Sie den Ausdruck auf Mogrods Gesicht gesehen?« fragte Sendig leise. Bremer sah ihn fragend an.
»Ich habe ihn gesehen«, fuhr Sendig fort. »Und übrigens auch den auf dem Artners - und auf Ihrem eigenen, so ganz nebenbei. Begreifen Sie es immer noch nicht, Sie Trottel? Irgend jemand ist dabei, die große Schlußrechnung zu machen, und was all diesen anderen armen Hunden passiert ist, wird auch mir passieren. Und wahrscheinlich auch Ihnen. Und glauben Sie mir, was immer es ist, es ist schlimmer als der Tod.« Er machte eine zornige Handbewegung. »Möglicherweise passiert es gar nicht wirklich. Vielleicht bilden wir uns das tatsächlich alles nur ein. Aber wissen Sie was, Bremer? Ich schätze, es ist egal. Das Ergebnis bleibt sich gleich, wenigstens für uns.«
Plötzlich schrie er, »Ich weiß nicht, was dieser Junge da ist, aber es ist mir auch egal! Ich werde jedenfalls nicht tatenlos zusehen, wie mir dasselbe passiert wie den anderen!«
»Und was wollen Sie tun?« fragte Bremer leise. »Auf Gespenster schießen?«
Bevor Sendig antworten konnte, hörten sie ein leises Stöhnen. Bremer sprang so heftig auf, daß er fast gegen Sendig geprallt wäre, und beugte sich über die Trage auf der anderen Seite. Mark bewegte sich. Sein Gesicht war noch immer so unnatürlich bleich wie zuvor. Seine Hände öffneten und schlössen sich unentwegt, und seine Fingernägel verursachten ein unangenehmes kratzendes Geräusch auf dem Kunstlederbezug der Trage. Er zitterte am ganzen Leib, und Bremer fiel auf, daß sein Schweiß plötzlich durchdringend und sauer roch. Vielleicht stand er am Lager eines Sterbenden. Aber seine Lider waren jetzt nicht mehr ganz geschlossen. Seine Augäpfel blickten trüb.