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Und die Parallelen waren unübersehbar. Das Verhältnis zwischen toten Toten und lebenden Toten war anders - diesmal hatte der barmherzige Tod die Oberhand behalten, während sein dunkler Bruder, der die Körper der Menschen unangetastet ließ, nur ein einziges Opfer gefunden hatte, aber beide waren sie da. Die Parallelen waren unübersehbar, und vielleicht war es mehr als ein morbider Zufall. Vielleicht war es ein Zeichen.

Berger wimmerte manchmal leise. Sillmann wunderte sich ein wenig, daß er noch lebte. Er verblutete, aber es dauerte viel länger, als er erwartet hatte. Er hätte gerne etwas für ihn getan - nicht aus Mitleid oder gar Schuldgefühl, sondern einfach aus dem Wissen heraus, daß ihm eine Verlängerung seiner Qual keinen Vorteil mehr brachte und auch keine innere Befriedigung. Aber er konnte es nicht. Es konnte es nicht wagen, nach oben zu gehen und Hilfe zu holen, und hier unten hatte er nicht die Möglichkeit, ihm irgendwie zu helfen. Er hätte seine Qualen beenden können, indem er ihn tötete, aber dazu fehlte ihm der Mut.

Und er hatte nicht mehr viel Zeit. Er spürte, daß es bald soweit war. Mark war auf dem Weg hierher, und bis er kam, mußte er bereit sein.

Sillmann schritt von Kerze zu Kerze und zündete die ausgetrockneten Dochte an. Manche zerfielen einfach zu Staub, aber die meisten brannten nach all der Zeit noch überraschend kräftig. Schließlich trat er an den Sekretär, der an der Wand neben der Tür stand, um auch die Kerzen darauf anzuzünden. Es waren nur drei Stück. Zwei brannten sofort, aber die dritte war mürbe geworden - als er sie berührte, fing der Docht zwar Feuer, aber die Kerze zerbrach in zwei Stücke. Flüssiges Wachs tropfte auf das Durcheinander von Papieren und Büchern, das den Sekretär bedeckte, und eines der Blätter begann zu schwelen. Sillmann schlug die Funken rasch mit der bloßen Hand aus und fegte das Blatt zu Boden, um ganz sicherzugehen.

Darunter kam ein aufgeschlagenes Buch zum Vorschein. Es hatte die letzten sechs Jahre verborgen dort gelegen, ebenso wie an jenem Abend, als Petri und er gekommen waren. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Papiere beiseite zu räumen, um es anzusehen. Sillmann tat es jetzt. Sein Blick fiel auf die aufgeschlagenen Seiten, verharrte einen Moment darauf, schweifte ab und kehrte dann abrupt zurück.

Für eine kurze Zeit stand er einfach da, starrte die engbedruckten Blätter an und dachte nichts. Er konnte es nicht mehr. Ein Gefühl eisiger, lähmender Kälte begann sich in ihm breitzumachen, eine Empfindung, die weit jenseits normalen Entsetzens und vorstellbarer Furcht lag.

»Oh mein Gott!« flüsterte er. »Großer Gott!« Immer und immer wieder.

42. Kapitel

Er hatte sich verschaltet, so daß der Wagen plötzlich und sehr viel heftiger abbremste, als Bremer erwartet hatte. Der Motor heulte auf, und Bremer reagierte überhastet und zum zweiten Mal falsch und hatte um ein Haar zu allem Überfluß auch noch die Lenkung verrissen, so daß der Krankenwagen auf kreischenden Reifen um die Kurve schlingerte. Hinter ihm quietschten Bremsen. Ein greller Lichtreflex huschte über den Rückspiegel, und nur einen Augenblick später schoß ein Wagen an dem Krankentransporter vorüber. Der Fahrer drückte abwechselnd auf Hupe und Lichthupe, aber er fand im Vorbeifahren noch immer Zeit, ihm einen Vogel zu zeigen. Bremer tat so, als hätte er es gar nicht bemerkt, aber er schickte dem Mann in Gedanken eine Entschuldigung hinterher - und sich selbst einen scharfen Verweis. Er zog es vor, lieber nicht darüber nachzudenken, wie nahe die Scheinwerfer im Rückspiegel gewesen waren.

Sendig meldete sich über die Sprechanlage: »Was ist los?«

»Nichts«, antwortete Bremer. »Ich war ein bißchen unaufmerksam. Entschuldigung. Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«

»Im Moment noch«, sagte Sendig.

Täuschte sich Bremer, oder hörte er in seiner Stimme einen nervösen Unterton, der das genaue Gegenteil behauptete? Offensichtlich schon, denn nach einem winzigen Moment des Zögerns fügte Sendig hinzu: »Aber wir sollten uns ein bißchen beeilen.«

Bremer verkniff sich im letzten Moment die Frage, ob irgend etwas mit Mark nicht in Ordnung sei. Sie wäre ziemlich überflüssig gewesen. Die Frage war vielmehr, was mit Mark noch stimmte, nicht umgekehrt.

»Wie lange brauchen wir noch?«

»Zehn Minuten«, antwortete Bremer - aber das war eigentlich mehr geraten als eine realistische Schätzung. Er kannte sich in diesem Teil der Stadt nicht besonders gut aus; Berlin war schließlich kein Dorf, und sein Revier lag fast am anderen Ende. Er war seit Jahren nicht mehr hiergewesen. Außerdem mußte er sich zusammenreißen, wenn er nicht riskieren wollte, daß ihre Fahrt abrupt an einem Baum oder dem Kühlergrill eines entgegenkommenden Wagens endete. Der Fehler gerade war vielleicht sein bisher größter gewesen, aber nicht der erste.

»Zehn Minuten«, wiederholte Sendig. »Das ist lang.« Diesmal war der panische Ton in seiner Stimme auch beim besten Willen nicht mehr zu überhören. Was zum Teufel ging dort hinten vor? Bremer sah nervös auf den Tachometer. Sie fuhren schon achtzig, selbst in einem Krankenwagen eine ziemlich sichere Methode, von der ersten Polizeistreife angehalten zu werden, der sie begegneten. Vor allem in einem gestohlenenKrankenwagen, der mit ausgeschalteter Sirene und ohne Blaulicht fuhr. Bremer berührte die entsprechenden Schalter und korrigierte diese Fehler.

Er konnte Sendigs erschrockenes Keuchen über die Sprechanlage hinweg deutlich hören. »Bremer, sind Sie verrückt geworden? Was... was tun Sie?«

»Ich verschaffe uns ein bißchen Zeit«, antwortete Bremer. Er gab Gas. Der Wagen beschleunigte auf neunzig, dann auf fast hundert Stundenkilometer. Die heulende Sirene und das zuckende blaue Licht scheuchten den Verkehr vor ihnen zwar zur Seite, aber noch schneller zu fahren wagte er trotzdem nicht.

»Sie verschaffen uns die Aufmerksamkeit der gesamten Berliner Polizei«, stöhnte Sendig.

»Aber die haben wir doch sowieso schon«, antwortete Bremer. Natürlich hatte Sendig recht - es war schon ein kleines Wunder, daß sie überhaupt so weit gekommen waren. Seit sie den Fabrikhof verlassen hatten, war praktisch keine Sekunde vergangen, in der er nicht damit gerechnet hatte, das Blaulicht eines Streifenwagens im Rückspiegel auftauchen zu sehen oder gleich den Scheinwerfer eines Polizeihubschraubers am Himmel. Wie sich die Dinge doch änderten, dachte Bremer spöttisch. Gestern um diese Zeit hatte er noch zu den guten Jungs gehört, und jetzt wurde er von seinen eigenen Kollegen gejagt.

»Wahrscheinlich kommt es darauf auch schon nicht mehr an«, murmelte Sendig. »Also gut - aber wenn Sie schon schnell fahren müssen, dann beeilen Sie sich wirklich. Und geben Sie Bescheid, wenn wir uns der Fabrik nähern.«

Er schaltete ab, und Bremer gab noch ein bißchen mehr Gas, allerdings nicht sehr viel. Die Sirene verschaffte ihnen ein wenig Luft, aber sie machte sie nicht unverwundbar. Für die nächsten Minuten mußte er seine gesamte Konzentration darauf verwenden, den Wagen heil durch den Verkehr zu bekommen: eine Aufgabe, die beinahe mehr von ihm verlangte, als er noch zu leisten imstande war. Zu der geistigen Erschöpfung kam nun allmählich auch ganz profane körperliche Müdigkeit. Trotzdem war er irgendwie froh darüber - auf diese Weise mußte er wenigstens für ein paar Minuten nicht über Sendig, Mark und die Schatten nachdenken. Und das, was sie erwartete.

Seine Schätzung war aber trotz allem noch zu optimistisch gewesen. Obwohl er so schnell fuhr, wie er nur konnte, brauchten sie annähernd zehn Minuten, um Sillmanns Fabrik zu erreichen - und dann wäre er um ein Haar noch daran vorbeigerast. Im buchstäblich allerletzten Moment erkannte er die pappelgesäumte Zufahrt wieder und trat so hart auf die Bremse, daß im hinteren Teil des Wagens irgend etwas umfiel und klirrend zerbrach.