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Sendig selbst meldete sich eine halbe Sekunde später über die Sprechanlage. »Ich nehme an, das heißt, daß wir da sind«, sagte er säuerlich.

»Ich sollte Ihnen doch Bescheid sagen, oder?« Bremer kurbelte heftig am Lenkrad und brachte das Kunststück fertig, den Wagen doch noch in die Einfahrt zu lenken, ohne die Hälfte der Pappeln auf der linken Seite abzurasieren. »Ist irgend etwas passiert?«

»Nein«, sagte Sendig. »Aber halten Sie trotzdem für einen Moment an. Ich komme nach vorne. Ich will es genießen, wenn wir einen Looping schlagen.«

Bremer bremste behutsam ab. Er ließ das Blaulicht laufen, schaltete aber die Sirene ab und lenkte den Wagen an den rechten Straßenrand. Der Weg war nicht mehr sehr weit, aber er konnte die Fabrik trotzdem noch nicht sehen. Vor dem dunklen Hintergrund der Nacht erhob sich nur ein Gebirge aus Schatten, das ebensogut fünfzig Meter wie eine Million Meilen entfernt sein konnte. Er wußte, daß Sillmanns Fabrik zum größten Teil in den Gebäuden eines ehemaligen Gutshofes untergebracht war, aber die Schatten dort vorne deckten sich auf eine unheimliche Weise nicht mit seinen Erinnerungen. Sie waren zu schwarz und zu groß und sahen auf eine bedrohliche Art fast organisch aus, als wäre es etwas Lebendiges, das am Ende der Straße auf sie wartete. Wenn er genau hinsah, konnte er sogar Bewegung erkennen. Der Scharten schien zu fließen, wie ein zäher Ölfleck in schwarzem Wasser, und hier und da in dieser klobigen, finsteren Masse funkelten kleine Lichter, die manchmal erloschen, wieder angingen oder auch ihre Positionen veränderten, als wären es tatsächlich Augen, die ihm zublinzelten.

Gerade, als diese Vorstellung die Grenze zwischen unangenehm und angsteinflößend zu überschreiten drohte, erkannte er, was es wirklich war: Das Fabrikgelände war von einem Ring hoher Bäume umgeben, deren Äste sich im Wind bewegten. So einfach war das.

Bremer lächelte verkrampft. Er war wirklich nervös. Aber er hatte wahrscheinlich auch allen Grund dazu.

Wo blieb eigentlich Sendig? Er hatte gesagt, daß er nach vorne kommen wollte, aber sie standen nun schon fast eine Minute hier, und hinten im Wagen rührte sich nichts. Bremer streckte die Hand nach der Sprechtaste aus, ließ den Arm aber dann wieder sinken und stieg statt dessen aus. Rasch umkreiste er den Wagen und öffnete die hintere Tür. »Sendig, wo blei -«

Verblüfft hielt er inne. Sendig drehte ihm den Rücken zu und stand halb über Marks Liege gebeugt da. Seine Schultern verdeckten Marks Gesicht, so daß Bremer nicht sehen konnte, ob er wach war oder schlief, aber dafür sah er etwas anderes: Sendig zog gerade in diesem Moment die dünne Nadel einer Injektionsspritze aus Marks Vene. Als er das Geräusch der Tür hörte, fuhr er erschrocken zusammen und versuchte, mit einer hastigen Bewegung die Spritze verschwinden zu lassen.

»Was tun Sie da?« fragte Bremer scharf.

Sendig stand das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben. Vollkommen absurd führte er seine Bewegung noch ein kleines Stück weiter und versuchte die Spritze in der Hand zu verbergen. »Er... er hat plötzlich das Bewußtsein verloren«, sagte er stockend. »Vor zwei Minuten. Ich wollte Sie nicht beunruhigen, deshalb habe ich nichts gesagt.«

Bremer trat mit einem energischen Schritt in den Wagen hinein, packte Sendigs Hand und verdrehte sie so, daß die Spritze wieder sichtbar wurde. »Was ist das?«

Sendig riß seine Hand los. »Dasselbe, was ihm der Arzt gegeben hat«, sagte er trotzig. »Was dachten Sie denn?«

»Ich wußte gar nicht, daß Sie im Nebenberuf Arzt sind«, erwiderte Bremer. Er sah auf Mark hinab. Der Junge lag wieder schlaff und mit geschlossenen Augen da. Sein Atem ging gleichmäßig, aber sehr flach.

»Das bin ich auch nicht«, sagte Sendig. »Aber ich habe Augen im Kopf. Ich habe mir einfach gemerkt, welches Mittel er genommen hat.« Er machte eine Kopfbewegung zu der Schublade hinter sich. »Gott sei Dank ist das hier ein sehr ordentlicher Laden.«

Bremer glaubte ihm kein Wort. Seine Behauptung klang durchaus logisch, und doch: In diesem Moment war Bremer hundertprozentig davon überzeugt, daß Sendig Mark umbringen wollte. Möglicherweise hatte er es schon getan.

»Was hätte ich denn tun sollen?« fuhr Sendig fort. »Er ist plötzlich zusammengebrochen. Sie wissen, was passiert, wenn er einschläft.«

»Ja - da wäre es doch ganz praktisch, wenn er sterben würde, wie?« fragte Bremer kalt.

»Unsinn!« sagte Sendig. »Denken Sie nach, Mann! Wenn ich ihn umbringen wollte, hätte ich das einfacher haben können.« Er atmete tief ein, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und sah einen Moment auf Mark hinab, ehe er in leiserem Tonfall fortfuhr: »Außerdem bin ich nicht einmal sicher, daß das etwas ändert. Denken Sie an das Mädchen.«

Seine Worte machten Bremer schlagartig wieder klar, in welcher Lage sie sich wirklich befanden. Es spielte wahrscheinlich gar keine Rolle, was Sendig beabsichtigt hatte oder nicht. Sie durchlebten einen Alptraum, in dem die Gesetze von Ursache und Wirkung nicht mehr unbedingt galten.

Marks linke Hand bewegte sich. Seine Lider zitterten, ohne sich zu heben. Trotzdem begriff Bremer, daß er dabei war, aufzuwachen. Wie es aussah, hatte er Sendig unrecht getan.

»Sehen Sie?« sagte Sendig. »Er wacht auf.«

»Bedauern Sie es?« Bremer starrte sein Gegenüber durchdringend an, aber alles, was er außer Nervosität und der noch immer glimmenden Panik in seinen Augen las, war echte Erleichterung, das gleiche Gefühl, das auch er jetzt empfand. Der Gedanke, daß Mark sterben könnte, erschreckte ihn, aber erst im nachhinein wurde ihm wirklich klar, was die Alternative gewesen wäre. Möglicherweise war ein toter Mark Sillmann gefährlicher als ein lebender - aber ein schlafender war es ganz bestimmt.

»Entschuldigung«, murmelte er.

Sendig winkte ab. »Vergessen Sie's. Los jetzt. Wir haben genug Zeit verloren.«

43. Kapitel

»Fuck it!« brummte Haymar kopfschüttelnd. »Der Kerl muß seinen Führerschein im Lotto gewonnen haben!« Er ließ das Nachtglas sinken, schüttelte ein paarmal heftig den Kopf und setzte das klobige Instrument dann wieder an. Der elektronische Restlichtverstärker färbte das Bild darin grün und übersteigerte die Konturen ebenso wie die Unterschiede zwischen Licht und Dunkelheit. Der Krankenwagen hob sich in Neongrün vor einem smaragdfarbenen Hintergrund ab, aber jedesmal, wenn das rotierende Blaulicht ins Bild geriet, schien sich eine dünne, glühende Nadel in seine Augen zu bohren. Das Gerät war nicht richtig eingestellt. Aber wenn er die Empfindlichkeit dämpfte, lief er Gefahr, den Wagen aus den Augen zu verlieren. Sie hatten Befehl, den größtmöglichen Sicherheitsabstand zu halten. Er hatte wenige Sätze mit Berger gewechselt, aber die Worte seines Vorgesetzten hatten an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriggelassen. Konkret waren sie sogar sehr viel deutlicher gewesen, als Haymar sich gewünscht hätte. Einen zweiten Fehler wie den vorhin würde Berger ihm nicht durchgehen lassen. Wenn er den Wagen verlor oder die Polizisten bemerkten, daß sie verfolgt wurden, würde seine Arbeit in Zukunft darin bestehen, Papier in Reißwölfe zu stopfen.

»Was tun sie da?« fragte Brauss, der neben ihm hinter dem Steuer saß und vergeblich versuchte, den Krankenwagen mit bloßem Auge zu erkennen. Sie waren einen guten Kilometer an der Abzweigung vorbeigefahren, ehe Haymar ihm bedeutet hatte, zu wenden und anzuhalten. Selbst das Blaulicht war nur als gelegentliches Funkeln zwischen den Bäumen zu erkennen, die die Zufahrt zu Sillmanns Fabrik säumten. Haymar überlegte einen Moment, ob er überhaupt antworten sollte. Brauss war ebenso neu wie der Wagen, in dem sie saßen; und so wie er gehörte er eindeutig zur zweiten Garnitur, zu den Leuten, die völlig zu Recht Papier in Reißwölfe stopften. Haymar wäre sehr viel wohler gewesen, wenn er einen wirklich guten Mann neben sich gewußt hätte. Leider war im Moment keiner greifbar - was von der ersten Garnitur in dieser Stadt noch übrig war, das waren er und Bergers persönliche Wache. Der Rest lag zu Asche verbrannt in einer schäbigen Gasse auf der anderen Seite der Stadt.