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»Was sollen wir schon tun?« Sendig drehte einen Moment vergebens am Zündschlüssel, bis er begriff, daß sie in einem betagten Diesel saßen, und den Daumen auf den Startknopf preßte. Der Motor sprang sofort an. »Sie wissen doch, wie das in amerikanischen Krimis läuft, oder? Wir brechen durch das Tor. Was sonst?«

»Ich finde das nicht im geringsten komisch«, sagte Bremer. Das entsprach der Wahrheit. Er war nicht nur im Zweifel - er war ziemlich sicher, daß Sendig diese Worte ernst meinte.

»Ich auch nicht. Entschuldigen Sie.« Sendig legte den Gang ein, fuhr aber noch nicht los. Sein Blick tastete durch die Fahrerkabine und blieb an einem Punkt hinter und über Bremer hängen. »Wie ich schon sagte - gottlob ist das hier ein sehr ordentlicher Haushalt. Geben Sie mir eine davon.«

Bremer sah in die gleiche Richtung und entdeckte zwei signalrote Jacken, die an einem Haken hinter ihm hingen. Er tat, worum Sendig ihn gebeten hatte, und gab ihm eines der Kleidungsstücke. Sendig nahm den Gang wieder heraus und begann umständlich, die Jacke über seinen Mantel zu streifen, ein Vorhaben, das hinter dem Steuer des Wagens nahezu zu einem akrobatischen Kunststück geriet. Das Ergebnis sah einigermaßen lächerlich aus. Die Jacke war Sendig um mindestens drei Nummern zu groß, und man sah deutlich, daß er darunter einen Mantel und ein zweites Jackett trug. Diese Verkleidung würde nicht einmal einem flüchtigen Blick standhalten, geschweige denn irgend jemanden täuschen. Trotzdem schlüpfte er nach kurzem Zögern selbst in die zweite Jacke - und stellte fest, daß sie ihm viel zu klein war.

»Tauschen wir?« fragte er.

»Wozu?« Sendig bedachte Bremer mit einem breiten Grinsen, legte den Gang wieder ein und ließ den Wagen langsam losrollen. »Das lohnt nicht. Außerdem - da fühlt man sich doch wieder richtig jung, oder? Wie damals beim Bund. Einheitsgröße - und paßt! Waren Sie bei der Bundeswehr, Bremer?«

»Nein«, antwortete Bremer einsilbig. Sendigs Verhalten irritierte ihn immer mehr. Er hatte Verständnis dafür und erwartete sogar, daß er nervös war und Angst hatte - aber Sendig benahm sich vollkommen verrückt. Zum ersten Mal fragte er sich allen Ernstes, ob Sendig vielleicht tatsächlich den Verstand verloren hatte.

»So, Sie haben nicht gedient?« Sendig schüttelte in gespielter Empörung den Kopf. »Ich bin erschüttert.«

Bremer sah ihn durchdringend an. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?« fragte er.

»Alles in Ordnung?« Sendig grinste noch breiter. »Natürlich ist mit mir alles in Ordnung. Was soll denn nicht stimmen?«

Bremer schwieg, und auch Sendig war einige Sekunden lang still. Aber als er weitersprach, war sein Lächeln irgendwie eingefroren und sah aus wie die geschminkten Züge eines Harlekins. »Nein, es ist nicht alles in Ordnung. Ganz und gar nichts ist in Ordnung, Bremer. Ich habe eine verdammte Scheißangst.«

Bremer hätte ihn gerne gefragt, wovor, aber es war zu spät. Die Einfahrt der Fabrik tauchte im Scheinwerferlicht auf, und Bremer sah, daß zumindest eine seiner Sorgen unbegründet gewesen war - das schmiedeeiserne Rolltor stand weit offen. In dem kleinen Pförtnerhäuschen daneben brannte das trübe Licht einer altmodischen Schreibtischlampe, aber der Pförtner selbst war bereits aus seiner Loge herausgetreten und leuchtete mit einer Taschenlampe in ihre Richtung. Wahrscheinlich hatte er sie schon bemerkt, als sie von der Straße abgebogen waren, und sich gewundert, warum sie mit laufendem Blaulicht noch einmal auf halbem Wege angehalten hatten.

Sendig trat leicht auf die Bremse, schaltete das Blaulicht aus und kurbelte gleichzeitig das Fenster auf seiner Seite herunter. »Sagen Sie nichts, Bremer«, sagte er. »Ich regele das.«

Er bremste weiter ab und hielt unmittelbar neben dem Pförtner an. Der Lichtstrahl der Taschenlampe richtete sich für einen Moment direkt auf sein Gesicht und erlosch, als Sendig die Hand hob und übertrieben blinzelte. Bremer hörte, wie der Pförtner näher kam. Sehen konnte er ihn nicht, dazu war es zu dunkel draußen. Alles, was er wahrnahm, war ein gesichtsloser Schatten.

»Guten Abend«, sagte der Pförtner. Seine Stimme verriet, daß er schon ziemlich alt sein mußte. »Was ist denn los? Ist was passiert? Ich habe euch nicht gerufen, und -«

»Es ist nichts passiert«, unterbrach ihn Sendig. »Keine Angst - wir sind nicht im Einsatz. Direktor Sillmann hat uns angerufen. Ist er hier?«

»Direktor Sillmann?« Der Pförtner kam noch näher und stand nun unmittelbar neben der Tür, so daß Bremer sein Gesicht nun erkennen konnte. Er war so alt, wie er erwartet hatte, und sah sehr verwirrt aus, aber auch ein bißchen mißtrauisch. Wahrscheinlich war ihm Sendigs Aufzug bereits aufgefallen. Bremer betete, daß die bloße Autorität des Krankenwagens ausreichen mochte, ihn nicht zu intensiv über dessen sonderbare Insassen nachdenken zu lassen.

»Er erwartet uns«, bestätigte Sendig. »Ist er schon da?«

»Ange...« Der Pförtner stockte mitten im Wort. Sein Gesicht hellte sich auf. »Jetzt verstehe ich. Natürlich ist er da - entschuldigen Sie. Er wartet schon auf Sie. Tut mir leid - ich habe die anderen durchgelassen, aber ich wußte nicht, daß noch jemand kommt. Was ist denn eigentlich los?«

Sendig ignorierte die Frage. »Wo finden wir ihn?«

»Im Labor.« Der Pförtner schaltete seine Lampe wieder ein und deutete mit dem Lichtstrahl nach rechts. Bremers Blick folgte der Geste. Das Gebäude, auf das der Mann wies, war zu weit entfernt, um mehr als ein Schatten zu sein, aber hinter einer offenstehenden Tür im Erdgeschoß brannte Licht. Ein Stück daneben war ein Wagen abgestellt. »Sehen Sie die Tür? Einfach den Gang bis zum Ende und dann die Treppe hinunter. Normalerweise ist abgeschlossen, aber wenn der Herr Direktor Sie erwartet, ist die Tür bestimmt auf. Wenn nicht, rufen Sie mich. Ich habe einen Hauptschlüssel.«

Sendig bedankte sich, drehte das Fenster wieder hoch und fuhr weiter. Die Scheinwerferstrahlen beschrieben einen asymmetrischen Viertelkreis vor ihnen auf dem Boden, als er den Wagen durch das Tor und dann nach rechts lenkte, und wurden länger, als er aufblendete. Die offenstehende Tür im Laborgebäude verlor deutlich an Leuchtkraft, aber dafür sah Bremer, daß hinter dem Wagen, der daneben abgestellt war, ein zweites Fahrzeug stand: ein auffälliger schwarzer Mercedes mit abgedunkelten Scheiben und einer sonderbaren, wie ein Bumerang geformten Antenne auf dem Kofferraumdeckel. Das mußten die anderen sein, von denen der Pförtner gesprochen hatte.

Auf der anderen Seite des Wagens mit der seltsamen Kofferraumverzierung lehnte ein Mann. Er trug einen dunklen Anzug und rauchte. In der linken Hand hielt er etwas, das Bremer nicht genau erkennen konnte, von dem er aber ziemlich sicher war, daß es sich um ein Walkie-talkie handelte. Als das Licht den Wagen erfaßte, erschien sein Schatten riesig und verzerrt an der weißgestrichenen Wand hinter ihm. Er drehte den Kopf und sah blinzelnd in ihre Richtung, machte aber keine Anstalten, vom Kotflügel des Wagens herunterzugleiten, auf dem er halb saß, halb lehnte.

Sendig gab ein wenig mehr Gas. Er fuhr nicht sehr schnell, aber sie waren auch keine zehn Meter mehr von den beiden Wagen entfernt. Wenn er es nicht unbedingt darauf anlegte, die Bremsen des Krankenwagens zu testen, sollte er vielleicht allmählich wenigstens aufhören, Gas zu geben, dachte Bremer.

»Nicht so schnell«, sagte er.

Aber Sendig bremste nicht ab, sondern grinste plötzlich wieder - und trat das Gaspedal mit einem Ruck bis zum Anschlag durch.

Der Motor unter Bremers Füßen heulte auf. Der Wagen machte einen regelrechten Satz, überwand die verbliebenen fünf oder sechs Meter im Bruchteil einer Sekunde und krachte mit solcher Wucht in die Hanke des Mercedes, daß Bremer nach vorne geschleudert wurde und erst im letzten Moment die Arme vor das Gesicht riß, um sich nicht am Armaturenbrett die Zähne einzuschlagen. Glas splitterte, und beide Scheinwerfer des Krankenwagens erloschen im gleichen Augenblick. Der Mercedes wurde ein Stück in die Höhe gehoben und drohte beinahe umzukippen, dann stürzte er mit einem schmetternden Schlag zurück, wobei er die Stoßstange und einen guten Teil der Motorhaube des Krankenwagens abriß.