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Im ersten Moment glaubte er, Hansen hätte die Worte gar nicht gehört. Sein Blick ging immer noch durch Bremer hindurch zu jenem imaginären Punkt irgendwo weit oben auf der Skala des Entsetzens. Aber dann, gerade als Bremer seine Frage wiederholen wollte, antwortete er doch.

»Es... geht schon wieder«, murmelte er. »Es war nur... entschuldige. Es kam so überraschend, und...« Er verhaspelte sich, brach schließlich ganz ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Bremer unterdrückte das Ekelgefühl, das beim Anblick der glitzernden Feuchtigkeit darauf in seinem Magen emporsteigen wollte, und half Hansen, sich ganz zu erheben.

»Ich brauche nur ein paar Minuten«, murmelte Hansen. »Laß mich einfach noch ein bißchen im Wagen sitzen und ausruhen.«

»Sicher«, antwortete Bremer. Er überzeugte sich davon, daß Hansen aus eigener Kraft stehen konnte, griff dann aber vorsichtshalber doch nach seinem Arm und führte ihn behutsam über die Straße, zurück zum Krankenwagen.

Die Türen des großen Mercedes-Transporters standen weit offen, und die beiden Sanitäter und der Arzt saßen auf den lederbezogenen Liegen und rauchten. Bremer hätte nicht sagen können, wer von ihnen blasser war und stärker zitterte, doch alle drei sahen aus, als wären sie am Ende ihrer Kraft. Als Hansen und Bremer näher kamen, kletterte einer der Sanitäter aus dem Wagen und kam ihnen entgegen, doch Bremer machte eine abwehrende Handbewegung und deutete zugleich mit einem Nicken auf den Arzt.

»Ich glaube, Sie sollten sich ein wenig um meinen Kollegen kümmern«, bat er.

Trotz des unübersehbaren Zustands des Schocks, in dem sich auch der Arzt befand - Bremer registrierte nebenher, daß er kaum älter sein konnte als Hansen -, legte er eine erstaunliche Professionalität an den Tag. Mit einer einzigen Bewegung war er aus dem Wagen und bei ihnen, und seine immer noch zitternden Hände hinderten ihn nicht daran, Hansen am Arm zu ergreifen und zum Krankenwagen zu führen. Mit Hilfe eines der Sanitäter bugsierte er ihn auf eine der beiden Liegen und untersuchte ihn unverzüglich, rasch, aber trotzdem sehr gründlich.

»Der Mann hat einen schweren Schock«, sagte er, während er bereits eine Spritze aufzog und den Sanitäter mit routinierten Gesten anwies, ihm zur Hand zu gehen. »Sie hätten viel eher kommen sollen.«

Bremer schwieg. Er sah wortlos zu, wie der Arzt Hansen eine Injektion verabreichte, dann ebenso rasch und routiniert eine Infusion anlegte. Hansen protestierte schwach, aber es hätte ihm vermutlich auch nichts geholfen, hätte er es energischer getan.

»Ist es schlimm?«

»So schlimm ein Schock eben ist«, antwortete der Arzt. »Es besteht keine akute Gefahr, wenn Sie das meinen. Trotzdem nehmen wir ihn mit ins Krankenhaus - nur für alle Fälle. Falls Sie nichts dagegen haben, heißt das.«

Diese Frage, dachte Bremer, zeugte schon von etwas weniger Professionalität. Ärzte gehörten normalerweise zu dem Personenkreis, der den allerwenigsten Respekt vor seiner Uniform an den Tag legte.

Aber er hatte auch nichts dagegen, ganz im Gegenteil. Völlig losgelöst von der medizinischen Seite war es wohl besser für Hansen, wenn er nicht mehr da war, wenn Sendig eintraf. Sendig haßte Polizisten, die Gefühle zeigten.

Der Gedanke an Sendig erinnerte ihn wieder daran, daß er nicht mehr viel Zeit hatte. Er wollte sich umdrehen und nun wirklich zu Clausen und dem Hausmeister hinaufgehen, aber der Arzt rief ihn zurück.

»Bitte warten Sie noch einen Moment«, sagte er. »Da... ist noch etwas, was ich Ihnen zeigen möchte.«

Bremer blieb gehorsam stehen, aber er fühlte sich plötzlich noch unwohler. Der Arzt hatte ihn nicht einmal angesehen, während er sprach, sondern stand weiter über Hansen gebeugt da und hantierte an seinem Arm herum, aber irgend etwas am Klang seiner Worte beunruhigte Bremer. Mehr, als er sich selbst erklären konnte. Mehr, als ihm lieb war. Vielleicht war es das unmerkliche Stocken gewesen, diese winzige Pause, die fast jeder einlegte, bevor er etwas aussprach, was ihm unangenehm war. Oder ihm angst machte.

Hinter dem Schutzschild dieses Gedankens schlich sich wieder die Hysterie heran, das spürte Bremer. Er gestattete ihr nicht, weiter Besitz von ihm zu ergreifen, als sie es ohnehin schon getan hatte, sondern fragte mit bewußt fester Stimme: »Und was?«

Der Arzt machte eine Kopfbewegung in die Richtung des Toten, der unter einem weißen Tuch verborgen auf der Straße lag. Er sah ganz bewußt nicht direkt in seine Richtung, und irgendwie gelang es ihm sogar, aus dem Wagen zu steigen und vor Bremer her zu dem Toten zu gehen, ohne ihn anzublicken.

»Ich bin nicht sicher, ob es etwas für die Polizei ist oder eher für die Kollegen von der Psychiatrie«, sagte er, während er sich umständlicher als nötig in die Hocke sinken ließ und sehr viel umständlicher als notwendig nach dem Tuch griff, um es anzuheben. »Aber ich denke, es ist auf jeden Fall besser, wenn ich es Ihnen zeige.«

Bremer wappnete sich innerlich gegen den Anblick, der sich ihm gleich bieten würde. Aber was unter dem Tuch zum Vorschein kam, war nicht annähernd so schlimm, wie er erwartet hatte. Es war schlimm, aber sein Kurzzeitgedächtnis schien einen eigenen Sinn für Dramatik entwickelt zu haben, denn Bremer hatte den Leichnam in sehr viel üblerem Zustand in Erinnerung. Aber als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, da hatte er halb auf dem Wagendach und halb auf der Straße gelegen, verdreht und mit zerschmetterten Knochen, und außerdem war der Arzt rücksichtsvoll genug, sein Gesicht verdeckt zu lassen, das den schlimmsten Anblick geboten hatte.

»Sehen Sie, hier.«

Bremer schluckte die bittere Galle herunter, die sich unter seiner Zunge angesammelt hatte, und beugte sich taktvoll über den Toten, um dem ausgestreckten Zeigefinger des Notarztes zu folgen. Ein schwacher Geruch ging von dem Toten aus, nicht deutlich genug, um ihn zu identifizieren, aber trotzdem vage bekannt. Sein Magen begann nun doch zu revoltieren, aber er sah auch fast sofort, was dem Arzt aufgefallen war.

»Diese Wunden hier.« Der Zeigefinger folgte, in fünf Zentimetern Höhe schwebend, einer Anzahl parallellaufender tiefer Schnitte, die den eingedrückten Brustkorb zusätzlich verunstalteten. Es war nicht leicht, unter all dem eingetrockneten Blut, dem Schmutz und den zahllosen Schrammen und Abschürfungen, die den Torso des Mannes im Grunde in eine einzige große Schürfwunde verwandelten, etwas zu erkennen, aber es gelang Bremer: Die Schnitte verliefen parallel und gerade, aber auch spitz gegeneinander geneigt und sich kreuzend, als hätte jemand mit tauben Fingern und einem zu großen Stück stumpfer Kreide versucht, etwas auf eine nasse Tafel zu schreiben. Und sie waren sehr tief, teilweise bis auf den weißen Knochen reichend. Bremer versuchte, sich den Schmerz vorzustellen, den ein solcher Schnitt verursachen mußte, doch es gelang ihm nicht. Eigentlich wollte er es auch nicht wirklich. Ihm war noch immer übel.

»Ich habe sie nicht sofort bemerkt, weil alles so voller Blut war, aber sie stammen eindeutig nicht von dem Sturz.«

Unter Bremers Zunge sammelte sich schon wieder bitter schmeckender Speichel. Er mußte immer schneller schlucken, und das flaue Gefühl in seinem Magen nahm weiter zu. Wofür zum Teufel hielt ihn dieser Bursche? Für Columbo? Laut sagte er: »Sie meinen, er hatte sich schon vorher verletzt?«

»Das sind keine normalen Verletzungen«, antwortete der Arzt. »Ich meine, er ist nicht durch eine Glasscheibe gestürzt oder so was. Ich bin ziemlich sicher, daß er sie sich absichtlich zugefügt hat.«

»Das ... denke ich auch«, sagte Bremer schleppend. Ein wenig hastiger, als ihm selbst lieb war, richtete er sich auf und fokussierte seinen Blick auf einen Punkt zwanzig Zentimeter über der Leiche; ein Trick, den er vor langen Jahren einmal von einem älteren Kollegen gelernt und der ihm schon oft geholfen hatte. Der Leichnam wurde zu einem verschwommenen Schemen vor seinen Augen, aber für alle anderen mußte es so aussehen, als blicke er ihn noch immer konzentriert an.