Bremer hatte den größten Teil des Aufpralles irgendwie abgefangen, ohne dabei ein paar Zähne einzubüßen oder sich die Handgelenke zu brechen; aber die verbliebene Wucht war noch immer groß genug, ihn vom Sitz zu reißen und zu Boden zu schleudern. Benommen blieb er einige Augenblicke liegen. Als er sich wieder in die Höhe stemmte, kroch Sendig ebenfalls gerade unter dem Lenkrad hervor. Er hatte weniger Glück gehabt und blutete heftig aus der Nase, grinste aber trotzdem wie ein Schuljunge, dem ein besonders lustiger Streich gelungen war.
»Ups!« sagte er. »Wie ungeschickt von mir!«
»Sind... sind Sie verrückt geworden?« keuchte Bremer.
Sendig lachte, riß die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Bremer vergeudete eine halbe Sekunde damit, ihm fassungslos nachzustarren, dann drehte er sich hastig herum und stieß die Tür auf der anderen Seite auf. So schnell er nur konnte, stolperte er hinter Sendig her, holte ihn aber trotzdem erst ein, als er den halbzertrümmerten Mercedes bereits umrundet hatte.
Der Mann, der auf dem Kotflügel gesessen hatte, lag jetzt stöhnend neben dem Wagen auf den Knien und hielt sich das Gesicht. Er blutete heftig aus Mund und Nase. Sendig rannte auf ihn zu, hielt abrupt an und sah einen Herzschlag lang wortlos - aber sichtlich amüsiert - auf ihn hinunter.
»Na so was!« sagte er kopfschüttelnd. »Sind euch die BMWs ausgegangen?«
Der Verletzte hob mühsam den Kopf und sah zu ihm hoch. Er blutete heftig aus Mund und Nase, und wahrscheinlich hatte er auch noch andere, schlimmere Verletzungen, denn sein Gesichtsausdruck spiegelte nur vollkommenes Unverständnis und Schmerz. Dann blitzte etwas in seinen Augen auf, aber die Erkenntnis kam zu spät. Noch immer grinsend streckte Sendig blitzschnell die Hand aus, grub die Finger in sein Haar und knallte seine Stirn so heftig gegen den Kotflügel, daß der Wagen um eine weitere Delle bereichert wurde. Der Mann verdrehte die Augen und sank bewußtlos zu Boden, als Sendig seine Haare losließ.
»Sendig!« keuchte Bremer. »Sind Sie wahnsinnig?!« Instinktiv trat er auf Sendig zu, hob die Arme, wie um ihn zu packen - und erstarrte mitten in der Bewegung. In Sendigs Hand lag plötzlich wieder die Pistole. Und sein Lächeln war wie weggeblasen.
»Behalten Sie die Nerven, Bremer«, sagte er. »Wir haben jetzt wirklich keine Zeit für Gefühlsduseleien. Holen Sie den Jungen.«
»Gefühlsduseleien?« Bremer starrte aus vor Schrecken geweiteten Augen auf den bewußtlosen Mann zu Sendigs Füßen hinunter. »Sind Sie verrückt? Sie hätten ihn umbringen können!«
»Und?« fragte Sendig. »Sind Sie so naiv, oder tun Sie nur so, Bremer? Glauben Sie im Ernst, daß die uns am Leben lassen, wenn sie uns zu fassen kriegen? Bestimmt nicht! Und jetzt holen Sie endlich den Jungen. Wir müssen weg hier. Wahrscheinlich sind noch einige mehr von diesen Kerlen in der Nähe!«
Bremer fühlte sich für einen Moment wie vor den Kopf geschlagen. Sendigs völlig überraschende Brutalität schockierte ihn, aber zugleich begriff er auch, daß er wahrscheinlich recht hatte. Wenn das, was Sendig ihm über die Droge und Sillmanns geheimnisvolle Beschützer erzählt hatte, die Wahrheit war, dann stand hier mittlerweile zuviel auf dem Spiel, als daß sie noch Rücksicht auf zwei kleine Polizeibeamte nehmen würden, vor allem dann nicht, wenn sie sich als lästige Mitwisser entpuppten. Hätte er auch nur einen Moment lang über diese Frage nachgedacht, dann wäre er wahrscheinlich von selbst darauf gekommen - aber aus irgendeinem Grund hatte er das bisher nicht getan. Wahrscheinlich, weil er es gar nicht wissen wollte.
»Los schon!« sagte Sendig ungeduldig. »Wir haben wahrscheinlich nur ein paar Minuten!«
Bremer drehte sich widerwillig herum und ging ein paar Schritte, aber dann rannte er zum Krankenwagen zurück. Er war plötzlich sehr zornig, vor allem auf sich selbst. Er hätte wissen müssen, daß es so oder so ähnlich enden würde - verdammt, er hatte es gewußt. Wieso hatte er es zugelassen? Mit einer viel zu heftigen Bewegung riß er die Türen auf und sprang in den Wagen hinein.
Auch die Innenbeleuchtung war ausgefallen, so daß er im ersten Moment kaum etwas sah. Immerhin erkannte er, daß Mark sich aufgerichtet hatte und vornübergesunken auf der Trage saß. Er stöhnte leise, hob aber den Kopf, als er Bremer bemerkte, und sah ihn an. »Was... was ist passiert?«
»Nichts«, antwortete Bremer hastig. »Ein kleiner Unfall, nichts Schlimmes. Ist Ihnen etwas passiert?«
Mark schüttelte den Kopf. Er versuchte aufzustehen, aber er war so schwach, daß es ihm ohne Bremers Hilfe nicht gelang. »Sind wir... da?« fragte er stockend.
»Ich glaube«, antwortete Bremer. Dann fügte er, hörbar (wenn auch gelogen) überzeugter hinzu: »Ja. Noch ein paar Schritte. Können Sie gehen?«
»Ja«, behauptete Mark. Es gelang ihm tatsächlich, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich zur Tür zu schleppen, aber nur, weil Bremer ihn dabei stützte. An der Tür angekommen, ergriff Bremer ihn kurzerhand unter den Armen und setzte ihn einen halben Meter tiefer wie ein Kind zu Boden. Mark stöhnte. Die Berührung mußte an seinem verletzten Arm höllische Schmerzen verursachen.
Bremer sprang hinter ihm aus dem Wagen, nahm kurz entschlossen seinen unverletzten Arm und legte ihn sich über Schultern und Nacken. Er hätte ihn getragen - der Junge war zwar groß, wog aber nicht besonders viel - und wäre auf diese Weise bestimmt schneller vorangekommen, aber er war ziemlich sicher, daß Marks Stolz das nicht zugelassen hätte, ganz gleich, wie elend er sich auch fühlte. So stützte er ihn, so gut er konnte, schlang den linken Arm um seine Hüfte und hakte die Finger unter seinen Gürtel, um auf diese Weise noch einen Teil seines Gewichts abzufangen.
Mark zitterte vor Anstrengung und Schmerz, als sie den zertrümmerten Mercedes umrundeten. Bremer sah, daß Sendig mittlerweile die Tür des Wagens geöffnet und den Bewußtlosen auf den Beifahrersitz verfrachtet hatte. Er fragte sich, warum, verschwendete aber keine Zeit auf diese Frage, sondern fuhr Sendig grob an: »Helfen Sie mir, verdammt noch mal!«
Sendig tauchte rückwärts wieder aus dem Wagen auf, aber er rührte keinen Finger, um Bremer zu helfen, sondern musterte nur Mark, auf eine Weise, die Bremer einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. »Wie fühlen Sie sich?« fragte er. »Geht es?«
»Das ist die dämlichste Frage des Tages«, sagte Bremer wütend. »Helfen Sie mir, zum Teufel! Sie sehen doch, daß er gleich zusammenbricht.«
»Das ist... nicht nötig«, sagte Mark schwach. »Wirklich, ich... ich fühle mich schon besser.«
Um seine Worte zu beweisen, nahm er die Hand von Bremers Schulter und versuchte, aus eigener Kraft zu stehen. Es gelang ihm nicht ganz; er mußte sich gegen den Kotflügel des Wagens lehnen, um nicht zu stürzen. Aber er hatte trotzdem recht - er war schon weitaus kräftiger als drinnen im Wagen, und Bremer konnte regelrecht sehen, wie er sich erholte. Es war das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit, und diesmal wirkte es noch unheimlicher.
»He, was ist denn da los?« Der Pförtner kam mit weit ausgreifenden Schritten herangestürmt. Sein Gesicht war eine einzige Maske der Empörung. »Was treibt ihr denn da? Was ist los?«
Er blieb abrupt stehen, als er nahe genug war, um die beiden ineinanderverkeilten Wagen richtig zu erkennen. Seine Augen weiteten sich. »Aber das... Was habt ihr denn nur gemacht?«
»Nichts«, antwortete Sendig. »Ein kleiner Unfall. Es ist alles in Ordnung, danke. Nichts passiert.«
»Nichts passiert?!« keuchte der Mann. Dann schlug der Ausdruck von Fassungslosigkeit auf seinen Zügen in jähes Erschrecken um. »He - ihr... ihr seid überhaupt keine Sanitäter. Hier stimmt doch was nicht!«