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Der Gedanke ließ ein leises Lächeln auf seinem Gesicht entstehen. Er war nicht der einzige, der Gruselgeschichten mochte, von Claudia vielleicht einmal abgesehen, die seine Begeisterung für solcherlei Dinge nie geteilt hatte. Aber nach dem heutigen Abend würde sie sie bestimmt auch mögen. Er würde ihr eine Geschichte zeigen, daß es ihr den Atem verschlug. Und nicht nur ihr.

Mark sah ungeduldig auf die Uhr. Es war fast zwölf. Er hatte den anderen gesagt, daß sie um Mitternacht hier sein sollten - die einzig passende Uhrzeit für das, was er vorhatte -, aber nun war es fast soweit, und noch ließ sich keiner der anderen sehen. Mark hoffte, daßsie alle kommen würden. Er hatte mit jedem einzelnen telefoniert und ihnen klargemacht, wie wichtig es war, daß sie kamen, und sie alle hatten zugesagt.

Andererseits wußte er, daß er sich nicht darauf verlassen konnte. Es war nicht das erste Mal, daß sie sich heimlich hier trafen, ohne daß sein Vater oder Onkel Löbach etwas davon erfuhren, aber meistens wurde der eine oder andere doch aufgehalten. Mark war mit seinen zwölf Jahren zwar nicht der älteste der Gruppe, aber doch einer der reifsten. Von dem knappen Dutzend, das sie waren, zählte keiner mehr als fünfzehn Jahre, und das war ein Alter, in dem es manchmal nicht einfach war, sich mitten in der Nacht aus dem Haus zu schleichen, noch dazu, ohne daß die Erwachsenen etwas merkten. Stefan und Klaus zum Beispiel waren gar nicht begeistert davon gewesen, daß er sie so überraschend hierherzitiert hatte, und noch dazu, ohne daß er ihnen sagte, warum eigentlich. Die beiden waren nicht nur Mitglieder ihrer Meditationsgruppe, sondern nebenbei auch noch aktive Fußballspieler - Mark verachtete Fußball - und hatten morgen ein anstrengendes Turnier vor sich, und sie hatten ihm ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, daß das, weswegen er sie hierherbeorderte, besser wirklich wichtig sein sollte, wenn er sich nicht gehörigen Ärger einhandeln wollte.

Was das anging, machte sich Mark keine Sorgen. Wenn sie erst einmal sahen, was er ihnen zu bieten hatte, würden sie ihren bescheuerten Fußball garantiert auf der Stelle vergessen.

Marks Hände strichen fast liebkosend über den Einband des Buches, das auf seinem Schoß lag. Er hatte ein Stück Papier als Lesezeichen hineingelegt, so daß er es gleich an der richtigen Stelle aufklappen konnte. Nicht, daß das nötig gewesen wäre. In den letzten zwei Tagen hatte Mark die entsprechende Seite so oft aufgeschlagen, daß er sie wahrscheinlich sogar mit verbundenen Augen gefunden hätte. Sein Blick fiel zum unzähligsten Male auf die kunstvolle Zeichnung, die das obere Drittel des Blattes bedeckte, und dann las er den Text darunter. Er hatte ihn rot eingekreist, um ihn schneller wiederzufinden, aber mittlerweile kannte er ihn auswendig.

Fast behutsam klappte er das Buch wieder zu, stand auf und trug es zu dem kleinen Sekretär neben der Tür. Er legte es aufgeschlagen darauf, breitete aber einige Papiere darüber aus, damit keiner der anderen es durch Zufall sah, wenn er hereinkam. Schließlich wollte er sich nicht selbst den Spaß verderben - und ihnen die Überraschung.

Sein Blick glitt ein letztes Mal prüfend durch den Raum. Er war mit seinen Vorbereitungen zufrieden - aber es war ja schließlich auch genug Arbeit gewesen. Er hatte allein zwei Tage gebraucht, um die benötigte Anzahl von Kerzen zusammenzubekommen; und gute drei Stunden, um sie alle anzuzünden. Es waren genau sechshundertsechsundsechzig. Ihr Licht war zusammengenommen, nicht einmal so hell wie das der beiden Neonröhren unter der Decke, aber viel wärmer, und die zahllosen brennenden Dochte erfüllten die Luft mit einem sonderbaren, fast berauschenden Aroma. Auf dem niedrigen Holzpodest am anderen Ende des Kellers hatte er ein Kreuz aufgestellt, das er selbst - zugegeben, nicht besonders kunstvoll - aus zwei Latten zusammengebastelt hatte. Auf den ersten Blick wirkte es gleichschenklig, aber das war eine ganz bewußte Täuschung. Der obere Balken war einen halben Zentimeter länger als der untere, was es zu einem umgedrehten Kruzifix machte. Das war sehr wichtig für das, was Mark vorhatte. Gleichzeitig konnten die anderen es nicht sofort sehen. Er mußte ein bißchen aufpassen, damit sie nicht vorher Verdacht schöpften und ihm den Spaß verdarben. Ja - alles war bereit. Jetzt fehlten nur noch die anderen.

Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, hörte er Schritte draußen im Vorraum, und einen Augenblick später betrat Claudia den Keller. Sie blieb überrascht stehen, als sie sah, welche Vorbereitungen er getroffen hatte, und blickte sich blinzelnd um.

»He, was ist...«

»Hübsch, nicht?« fiel ihr Mark grinsend ins Wort. »War auch eine Menge Arbeit.«

»Hübsch?« Claudia runzelte die Stirn, als suche sie nach einem anderen, zutreffenderen Ausdruck für das, was sie sah. »Also ich weiß nicht... Was soll denn das? Ist das etwa der Grund, aus dem wir alle so dringend hierherkommen mußten?«

»Auch«, bestätigte Mark. Er mußte sich plötzlich beherrschen, um ihr nicht sofort alles zu erzählen, aber das hätte ihm die Freude verdorben. Später würde sie von dem, was er ihnen zeigte, zweifellos genauso begeistert sein wie die anderen, aber zuerst wollte er ihr noch einen kleinen Schrecken einjagen. Ihr vor allem. Claudia und er waren jetzt seit einem Jahr zusammen in Löbachs Gruppe. Sie kannten sich, so lange er denken konnte - schließlich war ihr Vater ein guter Freund seines Vaters -, aber wirklich eng befreundet waren sie eigentlich erst, seit sie ihr gemeinsames Talent entdeckt hatten. Seither waren sie allerdings unzertrennlich, auch über die monatlichen Treffen mit Claudias Vater und den anderen hinaus.

Aber das änderte nichts daran, daß sie trotzdem auf eine Art Konkurrenten geblieben waren, jetzt vielleicht mehr denn je. Claudia und er waren unbestritten die beiden talentiertesten Schüler, die die Gruppe je gehabt hatte. Selbst Marcus, der der älteste war und die größte Erfahrung im Umgang mit AZRAEL hatte, gab neidlos zu, daß ihre Visionen die besten waren, und zwar mit Abstand. Aber Claudia und er teilten sich diese Führerrolle; und auch wenn keiner von ihnen das laut zugegeben hätte - es paßte weder ihm noch ihr.

Nun, dachte Mark, nach heute abend würde Claudia es schwer haben. Das, was er den anderen zu bieten hatte, mußte sie erst einmal besser machen.

»Was ist so komisch?« fragte Claudia. Offenbar hatte Mark sich nicht gut genug in der Gewalt, sich seine Vorfreude nicht anmerken zu lassen.

»Nichts«, sagte er. Fast hastig fügte er hinzu: »Hast du es?«

Claudia zögerte einen Moment, dann griff sie in die Tasche ihrer knappsitzenden weißen Jeansjacke und zog eine kleine Papiertüte hervor. Mark nahm sie entgegen, schüttete ihren Inhalt auf seine ausgestreckte Hand und zählte die farblosen Kapseln: Es waren zwölf. Nicht viel, aber genug.

»Mehr war nicht drin«, sagte sie. »Ich habe sowieso kein gutes Gefühl dabei.«

»Wieso?« fragte Mark.

Claudia zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, mein Vater beginnt Verdacht zu schöpfen. Er hat zwar nichts gesagt, aber so komische Andeutungen gemacht.«

»Was für Andeutungen?« fragte Mark alarmiert.

Claudia druckste einen Moment herum. »Andeutungen eben«, sagte sie schließlich. »Ich glaube jedenfalls nicht, daß er sehr begeistert ist, wenn er herauskriegt, daß wir uns heimlich hiertreffen.«