Mark schwieg dazu. Das war ein Thema, über das sie schon öfter gesprochen hatten, aber Mark hatte im Augenblick keine Lust, die alte Diskussion erneut aufflammen zu lassen. Claudia war ebenfalls nicht begeistert davon, daß sie sich zusätzlich zu ihren monatlichen Sitzungen, die unter strenger Kontrolle ihres Vaters stattfanden, auch noch manchmal heimlich hier trafen. Er war sogar ziemlich sicher, daß es nur einen einzigen Grund gab, aus dem sie überhaupt kam - nämlich um ihm einen Gefallen zu tun. Und, natürlich, irgendwann einmal den Beweis anzutreten, daß sie doch die bessere war. Während ihrer normalen Sitzungen würde ihr das bestimmt nicht gelingen. Ihr Vater achtete streng darauf, daß sie bei ihren geistigen Ausflügen einen bestimmten Punkt niemals überschritten - was sie natürlich ungehemmt taten, wenn sie allein waren. Nein, er würde bestimmt nicht begeistert sein, wenn er wüßte, was sie hier taten. Und in Zukunft sehr viel besser darauf achten, daß seine Tochter sich nicht in sein Arbeitszimmer schlich und eine Extraportion AZRAEL aus seinem Schrank nahm...
»Also was soll das alles hier?« fragte Claudia, nachdem Mark eine Weile geschwiegen und sie sich weiter in dem von Kerzenschein erfüllten Raum umgesehen hatte. »Was hast du vor? Eine schwarze Messe abzuhalten?«
Mark grinste. »Etwas viel Besseres«, sagte er. »Wart's ab. Nebenbei - hast du die anderen gesehen?«
Claudia nickte. »Sie sind oben. Sie kommen gleich nach, aber im Moment geht es noch nicht.« Sie lachte. »Bruno hat wieder einmal verschlafen und ist noch nicht auf seiner Runde.«
»Und wie bist du vorbeigekommen?« fragte Mark.
»Nun laß mir doch meine kleinen Geheimnisse«, kicherte Claudia. »Du weißt doch, daß einer Frau gewisse Möglichkeiten offenstehen, ihre Ziele zu erreichen.«
Mark sah sie mit gespieltem Entsetzen an. Er grinste ebenfalls, aber er verspürte auch ein rasches, völlig absurdes Gefühl von Eifersucht.
Sie gingen jetzt ein halbes Jahr miteinander, und er wußte, daß Claudia ihm treu war - wer gemeinsam AZRAEL nahm, der hatte keine Geheimnisse voreinander - und Bruno nun wirklich keine Konkurrenz darstellte. Trotzdem ärgerte ihn die Bemerkung ein bißchen.
Ehe der Gedanke weiter in ihm bohren konnte, ging die Tür auf, und die anderen kamen herein. Offensichtlich war der Nachtwächter mittlerweile wach geworden und hatte seine Runde begonnen, was ihnen endlich Gelegenheit gab, durch die präparierte Stelle im Zaun gleich neben dem Tor zu schlüpfen. Es gab ein großes Hallo und eine Reihe spöttischer oder auch mißtrauischer Bemerkungen, als sie sahen, was er vorbereitet hatte, und vor allem Stefan konnte es sich nicht verkneifen, ihm noch einmal unter die Nase zu reiben, wie schwierig es gewesen war, aus dem Haus zu kommen, ohne daßseine Eltern es merkten.
»Ich hoffe, es löhnt sich«, schloß er in grollendem Tonfall. »Wir haben morgen ein anstrengendes Spiel. Wehe, du hast mich umsonst um meinen Nachtschlaf gebracht.«
»Du wirst es nicht bereuen«, versprach Mark. »Aber jetzt laßt uns anfangen. Es ist schon spät.«
Er sah auf die Uhr - Mitternacht war seit zehn Minuten vorbei, und er mußte weitere zehn Minuten einkalkulieren, ehe das Mittel bei allen wirkte. Dazu noch einige Minuten, um die Trance zu erreichen ... Alles in allem blieb ihm gerade eine halbe Stunde, wenn er die Zeit zwischen zwölf und eins ausnutzen wollte. Die Geisterstunde.
»Also, jetzt mal raus mit der Sprache!« verlangte Marcus. »Was ist so ungeheuer wichtig, daß wir mitten in der Nacht herkommen mußten?«
»Das werdet ihr gleich erfahren«, sagte Mark. Er wartete, bis sich alle im Kreis auf den Boden gesetzt und an den Händen ergriffen hatten, ehe er selbst den Platz in der Mitte des Kreises einnahm, an dem normalerweise Onkel Löbach saß. Er übernahm auch weiter dessen Rolle, indem er heute die Rationen verteilte. Einige machten überraschte Gesichter, als sie sahen, daß jeder eine ganze Kapsel bekam - Löbach gestattete ihnen nie mehr als ein Drittel, und selbst das nicht immer. Aber für das, was Mark vorhatte, war es wichtig, ein besonders intensives Stadium der geistigen Vereinigung zu erreichen.
Mark nahm seine Kapsel als letzter, zerbiß sie mit einer kräftigen Bewegung und schluckte das geschmacklose Pulver mit etwas Speichel herunter. »Also«, begann er. »Ihr platzt wahrscheinlich alle schon vor Neugier, aber ich verspreche euch, daß ihr nicht enttäuscht werdet. Ich habe etwas herausgefunden.«
Er machte eine entsprechende Geste, und alle ergriffen sich an den Händen. Aber er ließ auch dann noch eine bewußte dramatische Pause verstreichen, ehe er fortfuhr: »Ich weiß jetzt, was AZRAEL wirklich heißt.«
»Was?« fragte Claudia mißtrauisch.
Mark lächelte. »Ich zeige es euch«, sagte er.
49. Kapitel
Bruno sah die Katastrophe kommen, aber er war nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Der Wagen drehte sich anderthalbmal um seine Achse und schoß gleichzeitig auf das Pförtnerhäuschen zu, und Bruno wußte mit absoluter Gewißheit, daß er ihn treffen würde - obwohl er gleichzeitig ein verzweifeltes Stoßgebet zum Himmel schickte, daß er vielleicht ein weiteres Mal seinen Kurs ändern, gegen ein unsichtbares Hindernis stoßen oder einfach noch eine Vierteldrehung vollführen würde, die ihn an seinem Ziel vorbeischleuderte. Nichts von alledem geschah.
Er war in seine Pförtnerloge zurückgeeilt, so schnell er konnte, und hatte die Polizei angerufen - viel zu spät, wie ihm jetzt klar wurde. Er hatte den Kerlen in dem Krankenwagen von Anfang an nicht getraut. Der Ältere in seiner viel zu großen Jacke hatte einfach nicht ausgesehen wie ein Krankenwagenfahrer, und der andere Bursche war für Brunos Geschmack ein bißchen zu nervös gewesen, auch wenn er nichts gesagt hatte. Aber Direktor Sillmann hatte ja Besuch angekündigt; er bekam öfter sonderbare Gäste, und Bruno hatte keine Lust gehabt, sich an einem Tag gleich zwei Zigarren einzuhandeln. Sillmann war zwar ein Chef, der gut zahlte und normalerweise zu der angenehmen Sorte gehörte - die, die man selten sah -, aber auch launisch sein konnte, und Bruno wollte seinen Job behalten. Nach fünfundzwanzig Jahren setzte man nicht alles aufs Spiel, nur wegen eines dummen Gefühls.
Hätte er nur darauf gehört! Er hatte ganz genau gesehen, daß sie den Wagen, der kurz nach dem des Direktors auf den Hof gerollt war - Bruno hatte ihn durchgewinkt, genau wie Sillmann es befohlen hatte -, absichtlich gerammt hatten! Und dann hatten sie ihn noch mit einer Waffe bedroht! Wahrscheinlich hatte er Glück, daß sie nicht auf ihn geschossen hatten. Was allerdings nicht hieß, daß sie das nicht nachholen würden, zum Beispiel, wenn sie wieder herauskamen. Wenn die Kerle wirklich das waren, wofür er sie hielt - Terroristen, Industriespione oder vielleicht auch Mafia-Typen, die hinter Drogen her waren, von denen es unten im Labor bestimmt genug gab -, waren sie bestimmt nicht versessen darauf, Zeugen zu hinterlassen, die sie identifizieren konnten. Er hatte die Polizei angerufen, den Eingang und die drei Wagen dabei aber keine Sekunde aus den Augen gelassen. Sollte sich dort drüben irgend etwas rühren, bevor die Polizei eintraf, würde er weglaufen und sich irgendwo in der Dunkelheit auf dem Fabrikgelände verstecken. Vermutlich wäre es sehr viel klüger gewesen, dies sofort zu tun, aber fünfundzwanzig Jahre Dienst als Nachtwächter und Pförtner hinderten ihn dann doch daran, seinen Posten zu verlassen.
Jetzt würde ihn sein Diensteifer wahrscheinlich das Leben kosten.