Die Polizei war nach weniger als zwei Minuten gekommen - wenigstens dachte er, daß es die Polizei war, als er die beiden Wagen die Zufahrt heraufkommen sah. Sie hatten zwar weder Sirene noch Blaulicht, aber das lag wahrscheinlich daran, daß sie die Typen nicht frühzeitig warnen wollten. Bruno war hinter seinem Schreibtisch aufgestanden und hatte sich bereit gemacht, hinauszugehen und ihnen zu sagen, wo sie suchen sollten, hatte es aber dann doch nicht getan - der Wagen war mit mindestens achtzig Sachen einfach durch das Tor geschossen und abgebogen, so daß er ihn nicht einmal richtig erkannt hatte. Immerhin sah er, daß es kein Streifenwagen war, sondern ein ziemlich großer, dunkler PKW - ein Mercedes oder BMW - mit getönten Scheiben und einer Funkantenne auf dem Dach. Kripo, vielleicht sogar Geheimdienst. Möglicherweise hatte er mit seiner Vermutung, was die Mafia anging, gar nicht so falsch gelegen. Nur einen Augenblick später raste ein zweiter, noch schnellerer Wagen heran.
Dreißig oder vierzig Meter, bevor er das Tor erreichte, trat der Fahrer plötzlich auf die Bremse. Es gab absolut keinen Grund dafür - die Straße war vollkommen frei, und das Tor stand weit offen. Der Wagen schleuderte, brach aus, rutschte auf zerfetzten Reifen weiter und schoß auf die Pförtnerloge zu. Irgend etwas flog aus der Heckscheibe heraus, aber Bruno konnte nicht erkennen, was. Der Wagen schlingerte weiter und begann eine zweite Drehung, und erst in diesem Moment begriff Bruno wirklich, daß er ihn treffen mußte. Er versuchte sich in die Höhe zu stemmen und gleichzeitig irgendwie vom Schreibtisch wegzukommen, aber er war viel zu langsam. Die beiden geplatzten Hinterreifen des BMW flogen in Fetzen davon, und die nackten Felgen schlugen Funken auf der Straße. Der Wagen raste wie ein Berg aus Metall und Glas heran, hüpfte beinahe elegant über den niedrigen Bordstein und traf das Pförtnerhäuschen wie ein vier Meter großer Hammer. Wie in einer bizarren Zeitlupenaufnahme sah Bruno, wie die dünne Sperrholzwand eingedrückt wurde und auf ihn zuflog. Holzsplitter, abgerissene Drähte und Nägel explodierten ihm ins Gesicht. Die Scheibe verwandelte sich in ein Gespinst aus Milliarden ineinanderlaufender Risse und milchiger Splitter, das einen Augenblick später in sich zusammenfiel, und der gesamte Schreibtisch machte einen Satz auf ihn zu. Bruno wurde die Luft aus den Lungen gepreßt, als die zerschrammte Schreibtischkante seinen Leib dicht oberhalb des Magens traf und sich anschickte, ihn zu halbieren. Gleichzeitig kippte er nach vorne, tauchte mit dem Gesicht in den Regen niederprasselnder Glasscherben ein und spürte, wie irgend etwas sein Bein traf und auf grausame Weise verdrehte. Der Wagen pflügte immer noch auf ihn zu, wie der stählerne Bug eines Eisbrechers, der dem infernalischen Vorspiel ein brutales Ende setzen würde.
Das War also der Tod, dachte Bruno, während er hilflos dabei zusah, wie ein gezackter Holzsplitter sich seinen Augen näherte. Gleichzeitig wurden seine Rippen immer weiter zusammengequetscht, und -
und dann war etwas da.
Etwas Großes, Schwarzes, das sich im Bruchteil einer Sekunde hinter ihm materialisierte und ihn mit unvorstellbarer Kraft ergriff. Hände, stark wie die eines griechischen Gottes und schnell wie ein Blitz, packten ihn und rissen ihn im allerletzten Moment aus den Trümmern der zusammenbrechenden Pförtnerloge heraus. Etwas Riesiges, Dunkles hüllte ihn ein, und er glaubte das Rauschen mächtiger Flügel zu hören, die die Luft teilten, und für einen winzigen Moment war es ihm wirklich, als flöge er - was natürlich unmöglich war. Dann sah er Feuerschein: ein blendendes, weißes Licht, das ihn einhüllte und für Augenblicke blind machte. Eine Woge furchtbarer Hitze strich kochend über sein Gesicht und seine Hände, grausam genug, ihn aufschreien zu lassen, aber zu schnell, um ihn wirklich zu verletzen. Bruno schrie, krümmte sich und wartete auf den Aufprall, der allem ein Ende setzen würde.
Er kam nicht. Es gab keinen Aufprall. Statt dessen war es, als würde er von unsichtbaren Händen gehalten und beinahe sanft zu Boden gesetzt. Unter ihm war plötzlich Gras, und durch seine geschlossenen Lider drang noch immer greller Feuerschein. Irgend etwas explodierte mit einem ungeheuren Krachen, und wieder traf ihn eine Hitzewelle, vor der ihn diesmal nichts schützte, so daß er zu Boden geschleudert wurde und hastig die Arme über den Kopf schlug.
Als er die Augen öffnete, schien die ganze Welt in Flammen zu stehen. Er lag gut zehn Meter von der brennenden Pförtnerloge entfernt im Gras und blutete aus etlichen Dutzend winziger Schnitt- und Rißwunden im Gesicht und den Händen, und er hatte starke Schmerzen - aber er lebte. Er konnte sich nicht erklären, wieso: Alles, was links von ihm war, brannte. Die Flammen hatten das Pförtnerhäuschen und den Wagen vollkommen eingehüllt und leckten bereits gierig nach den Ästen eines Baumes, der danebenstand, und die Hitze war selbst hier so gewaltig, daß er keine Luft bekam. Aber er lebte.
Während sich Bruno auf Hände und Knie erhob und hastig von den Flammen fortzukriechen begann, meldete sich seine Logik, die ihm einzureden versuchte, daß er einfach von der Wucht der Explosion erfaßt und davongeschleudert worden sei, und das war auch die Version, die er später erzählte, als die Polizei eintraf und die Feuerwehr und alle anderen. Aber tief in seinem Innern wußte er, daß das nicht stimmte. Der Wagen war explodiert, nachdem er das Pförtnerhäuschen zermalmt hatte. Hätte ihn die Explosion hierhergeschleudert, dann hätten sie allerhöchstens einen verkohlten Leichnam gefunden, dem jeder Knochen im Leib zerbrochen worden war. Etwas hatte ihn gerettet. Es gab Schutzengel. Und er hatte seinen getroffen.
50. Kapitel
Der Keller war hergerichtet wie die Kulisse eines billigen Horrorfilmes. Bremer schätzte, daß von den über fünfhundert Kerzen, die sie damals gezählt hatten, mindestens die Hälfte jetzt wieder brannte. Ihr Geruch vermischte sich mit dem Staub und dem Moder in der Luft zu etwas, das ihm fast den Atem nahm, und der flackernde Lichtschein erweckte Millionen huschender kleiner Schatten im Raum zum Leben.
Die Erinnerungen hatten ihn mit solcher Wucht getroffen, daß er unmittelbar hinter der Tür stehenblieb und für ein paar Sekunden einfach nicht weitergehen konnte. Alles war wie damals - die Kerzen, die Wärme, das umgedrehte Kreuz auf dem hölzernen Podest. Selbst die Toten schienen wieder da zu sein. Ihre Umrisse waren an den verblichenen, aber noch immer sichtbaren Kreidestrichen auf dem Boden zu erkennen, und was die Leichen anging - sie lagen nicht in den Kreidekonturen, aber sie waren da.
Es gab auch heute wieder vier Tote in diesem Raum.
Drei von ihnen lagen in großen, bereits im Eintrocknen begriffenen Blutlachen unweit der Tür auf dem Boden, und ein vierter hockte vornübergesunken an der gegenüberliegenden Wand. Er blutete nicht, und als Bremer ein zweites Mal hinsah, war er auch nicht mehr sicher, daß er wirklich tot war. Er _ saß völlig reglos da, und sein Gesicht war schlaff und schneeweiß, aber in seinen offenstehenden Augen war etwas. Allerdings kein Leben, sondern nur Grauen.
Die drei anderen hingegen waren tot, daran bestand kein Zweifel. Es waren auch keine Kinder, wie damals, sondern erwachsene Männer - zwei von ihnen in einem schwer zu definierenden Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, während der dritte ungefähr in Sendigs Alter sein mußte. Alle drei waren erschossen worden, und das wahrscheinlich erst vor ganz kurzer Zeit. In dem süßlichen Blutgeruch, der von ihren Leichen aufstieg, glaubte er noch Pulverdampf zu identifizieren.
Ganz allmählich fand er in die Wirklichkeit zurück. Es fiel ihm schwer. Die Mischung aus erinnertem und gegenwärtigem Grauen, die ihn empfangen hatte, war schlimmer als alles andere bisher. Er mußte sich bewußt konzentrieren, um sich zu fragen, wer die drei Toten sein mochten - obwohl er die Antwort eigentlich kannte. Einer von ihnen hielt eine Pistole in der Hand, die er noch sterbend gezogen hatte, und sowohl ihre Gesichter als auch die Art, sich zu kleiden, wiesen gewisse Ähnlichkeiten auf. Sie gehörten zu den Männern in den blauen BMW. Sendigs Dienstausweise. Sie mochten mächtig sein, aber sie waren nicht kugelfest.