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Haymar war nicht der einzige, der es spürte. Auch Andres und Lech sahen sich öfter um, und Lechs Zeigefinger strich immer nervöser über den Abzug seiner UZI, was Haymar instinktiv dazu brachte, etwas weiter hinter ihn zurückzufallen. Er hatte wenig Lust, vor dem Lauf seiner Waffe zu stehen, wenn dem Kerl die Nerven durchgingen.

»Was... was ist das hier?« fragte Andres nervös.

Im ersten Moment kam Haymar die Frage ziemlich dumm vor, dann fiel ihm ein, daß er und Berger ja die einzigen waren, die damals dabeigewesen waren - die einzigen, die noch lebten, hieß das. Vielleicht galt das sogar nur noch für ihn. »Sillmanns Labor«, sagte er knapp. »Das meine ich nicht«, sagte Andres nervös. »Irgend etwas... geht hier vor.«

Sie spürten es also auch, dachte Haymar. Er wußte nicht, ob er über diese Erkenntnis wirklich erleichtert sein sollte. Sie bewies ihm zwar, daß er nicht verrückt war - aber sie machte das unsichtbare Etwas, das sie verfolgte, auch ein ganzes Stück realer. »Das ist der Junge«, sagte er.

»Der Junge? Sillmann?«

»Berger, dieser Idiot«, murmelte Haymar. »Ich habe ihm damals schon gesagt, er soll dieses Monsterbaby erledigen. Aber er hat nicht auf mich gehört.« Wir werden das nachholen, fügte er grimmig in Gedanken hinzu. Jetzt.

Er ignorierte Andres' verwirrte Blicke, eilte rasch an ihm und Lech vorbei und erreichte als erster die weißlackierte Tür am anderen Ende des Korridors. Sie war so schwer, daß er beide Hände zu Hilfe nahmen mußte, um sie zu öffnen. Dahinter begann eine weitere, steil nach unten führende Treppe. Sie war von zwei Neonleuchten erhellt, deren untere jedoch einen defekten Starter zu haben schien, denn sie ging immer wieder aus. Trotzdem konnte Haymar die Eisentür erkennen, die sich am unteren Ende der Treppe befand. Das flackernde Licht und die unheimlichen Geräusche, die sie umgaben, verliehen der Szenerie zusätzlich etwas Gespenstisches.

»Also gut«, sagte er. »Hört mir zu: Gebt auf den Jungen acht - er ist die größere Gefahr. Wenn er irgend etwas tut, und wenn er nur hustet, dann schießt!«

»Berger hat gesagt, er wäre tabu«, erinnerte Andres. »Außerdem ist er fast noch ein Kind.«

»Berger ist mit ziemlicher Sicherheit tot«, antwortete Haymar grimmig. »Und dieser Junge ist alles andere als ein Kind, glaub mir. Er ist ein Killer. Wenn Berger noch lebt, bringen wir ihn hier raus. Wenn nicht, erschießt den Jungen und die beiden Bullen, und dann verschwinden wir. Los!«

54. Kapitel

Sillmann weinte. Er tat es lautlos und nicht so, wie andere es vielleicht getan hätten - sein Gesicht war eine steinerne Maske, und er vergoß nicht eine einzige Träne, und trotzdem konnte Bremer den unvorstellbaren Schmerz spüren, den dieser große, massige Mann empfand, während er seinen sterbenden Sohn in den Armen wiegte.

Bremer wußte nicht, ob Mark bereits tot war oder im Sterben lag, aber wenn das überhaupt ein Unterschied war, dann war er nur in Sekunden zu messen. Im Augenblick, in dem Mark gestürzt war, hatte er zur Tür gesehen, und er war vollkommen davon überzeugt gewesen, daß der Schatten erscheinen mußte. Für einen Moment hatte er sich sogar eingebildet, ihn zu sehen - aber diesmal war es tatsächlich nur Einbildung gewesen. Von draußen drang Lärm herein - Geräusche, die wie Schreie klangen, vielleicht auch wie Schüsse -, aber das alles war bedeutungslos. Vielleicht hatten sie sich getäuscht, und mit Marks Tod war wirklich alles vorbei.

Er hörte, wie Sendig sich erhob und mit schleppenden Schritten näher kam, und sah auf. Was er erblickte, erschreckte ihn. Sendigs Gesicht war das eines Wahnsinnigen: eine verzerrte Grimasse mit brennenden Augen und hektisch geröteten Wangen. Speichel lief aus seinen Mundwinkeln, und er knirschte mit den Zähnen. Er hatte seine Waffe wieder aufgehoben. Ihre Mündung schwankte zwischen Sillmann, seinem Sohn und Bremer hin und her.

»Ist er... tot?« fragte er. »Ist es vorbei?«

Sillmann hob den Kopf. Seine Hand strich immer wieder über Marks Wangen und Stirn, als hielte er ein fieberndes Baby in den Armen, das er trösten wollte, und in den unsagbaren Schmerz in seinen Augen mischte sich - vielleicht zum letzten Mal - noch einmal eine Empfindung, die er so lange und so perfekt gespielt hatte. »Nein«, sagte er. »Er lebt. Aber er wird sterben.« Er machte eine Kopfbewegung auf die Waffe in Sendigs Hand. »Das ist nicht mehr nötig.«

»Sie wissen nicht, was Sie da reden!« keuchte Sendig. Die Pistole richtete sich zitternd auf Marks Stirn, und sein Finger krümmte sich um den Abzug. Bremer spannte sich. »Er wird uns alle umbringen!«

»Er stirbt, Sendig!« sagte Bremer. »Sehen Sie das denn nicht!«

»Nein!« keuchte Sendig. »Er lebt noch! Er lebt, und solange er am Leben ist, kann er uns umbringen. Er muß -«

»Aber er ist doch schon tot«, sagte Sillmann beinahe sanft. »Sein Körper lebt noch, aber das ist auch alles.« Er deutete auf die zerbrochene Spritze am Boden. »Ich habe ihn umgebracht, Sendig. Zum zweiten Mal.«

Bremers Blick folgte der Geste. Langsam streckte er die Hand aus, aber er wagte es nicht, die Spritze zu berühren. Irgend etwas sagte ihm, daß er Sillmann damit verletzt hätte, und trotz allem wollte er ihm nicht weh tun. Jetzt nicht mehr. Fragend sah er Sillmann an.

»Ich bin zu spät gekommen«, flüsterte Sillmann. »Zu spät. Ich hätte ihn nicht wegschicken dürfen. Ein Vater sollte nie seinen Sohn wegschicken, ganz gleich, was er getan hat.« Plötzlich hob er mit einem Ruck den Kopf und starrte Bremer an, und jetzt füllten sich seine Augen mit Tränen.

»Ich hätte ihn retten können. Wenn ich ihn nicht weggeschickt hätte, hätte ich ihn retten können. Wir haben es schon einmal getan, und wir hätten es wieder tun können.«

Die Worte lösten etwas in Bremer aus, eine Erinnerung an ein Gesicht, das er vergessen hatte. Er sah zu dem Mann hinter Sillmann, und jetzt wußte er, wer er war.

»Erzählen Sie es mir«, sagte er leise.

»Petri hatte mich gewarnt«, flüsterte Sillmann. »Er hatte immer gesagt, daß es passieren wird. Das Mittel wirkt nicht auf Dauer. Wir wußten, daß es geschieht, aber wir... mein Gott, ich wußte doch nicht, daß es so schlimm wird. Wir konnten es doch nicht wissen!«

Bremer sah auf die zerbrochene Spritze herab. »Haben Sie damit seine Erinnerungen ausgelöscht?«

»Wir wußten doch nicht, was wir taten!« stöhnte Sillmann. »Begreifen Sie denn nicht? Es... es war die ganze Zeit in ihm. Wir haben es nur betäubt, nicht getötet. Und es ist stärker geworden!«

Mark stöhnte leise. Er bewegte die Hände, drehte den Kopf und erschlaffte wieder, aber seine linke Hand zuckte immer heftiger. Es war unvorstellbar, aber in diesem zerschlagenen, vergifteten, ausgebluteten Körper war noch immer etwas, das sich mit verzweifelter Kraft an das Leben krallte.

»Hören Sie mir zu«, sagte Bremer. »Ich verspreche Ihnen etwas, Sillmann. Ich werde jetzt hinaufgehen und einen Krankenwagen rufen, und wenn es irgendwie möglich ist, werden wir Ihren Sohn am Leben erhalten. Wir lassen ihn nicht sterben. Aber Sie müssen uns alles sagen. Wir müssen alles wissen, um uns zu schützen - und um ihn vor sich selbst zu schützen. Verstehen Sie das?«

Das war eine Lüge. Bremer wußte, daß Mark die nächsten Minuten nicht überleben konnte. Aber wenn er starb, bevor Sillmann ihnen die ganze Geschichte erzählt hatte, würden sie die volle Wahrheit vielleicht nie erfahren. Und er würde niemals wissen, ob er in Sicherheit war.

»Versprechen Sie mir das?« flüsterte Sillmann.

Bremer nickte. »Ja«, sagte er ernst. »Sie haben mein Wort. Was haben Sie ihm gegeben?«

»Dasselbe wie vor sechs Jahren«, sagte Sillmann leise. »Petri... Petri hat es entwickelt. Ein Psychopharmakon, das seine Erinnerungen blockiert. Es ist verboten, aber wirksam. Wir dachten, daß es ihm hilft, alles zu vergessen, aber... mein Gott, wir,.. wir wußten es doch nicht!«