Выбрать главу

»Es sieht fast so aus, als hätte er versucht, etwas zu schreiben«, sagte der Arzt.

Mit einem Skalpell?! dachte Bremer entsetzt. Er gestattete dem Bild vor seinen Augen noch immer nicht, wieder scharf zu werden, aber trotzdem hatte der junge Mann wahrscheinlich recht - was da in krakeliger Druckschrift drei Zentimeter tief in das Fleisch des Toten eingeritzt war, waren Buchstaben, auch wenn er sie nicht entziffern konnte.

»Das ist... sehr interessant«, sagte er mühsam. Sein Magen begann Purzelbäume in seinem Leib zu schlagen. Er mußte hier weg, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, dem jungen Arzt den Abend endgültig zu verderben, indem er ihm über die Schuhe kotzte. »Die Kollegen von der Spurensicherung sind unterwegs. Sie werden es sich genauer ansehen.«

»Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten«, antwortete der Arzt. »Ich nehme an, der Mann war schon vorher nicht mehr zurechnungsfähig. Aber ich dachte, es wäre besser, wenn ich es Ihnen zeige.«

Bremer richtete sich nun endgültig auf und trat zwei volle Schritte zurück. Er spürte selbst, daß er kreidebleich geworden war und daß seine Hände mittlerweile heftig zitterten.

»Das war vollkommen richtig, Herr Doktor«, sagte er. »Wie gesagt - meine Kollegen sind unterwegs. Sie müßten eigentlich jeden Moment hier sein. Zeigen Sie ihnen, was Sie entdeckt haben.«

Damit drehte er sich um und begann mit schnellen Schritten auf das Haus zuzugehen. Der Arzt sah ihm verwirrt nach, aber das war Bremer mittlerweile egal. Er hatte nur noch die Wahl, das Gesicht oder den Inhalt seines Magens zu verlieren. Bremer verstand sich selbst nicht mehr ganz. Der Anblick - vor allem zusammen mit dem, was vorher geschehen war - war schlimm, aber auch wieder nicht so schlimm.

Mit noch immer leicht zitternden Händen hob er das Funkgerät und rief seinen Kollegen oben im achten Stock. »Wie sieht es aus?« fragte er, kaum daß Clausen sich gemeldet hatte. »Kommt ihr vorwärts?«

»Mit der Tür?« Er konnte Clausens Kopfschütteln regelrecht hören. »Ohne entsprechendes Werkzeug ist da nichts zu machen. Ein Safe ist nichts dagegen.«

»Das will ich mir selbst ansehen«, antwortete Bremer. »Komm runter und halt hier die Stellung, bis die Kollegen eintreffen.«

»Ganz wie du meinst.« Clausen klang ein wenig beleidigt, aber auch das war Bremer mittlerweile ziemlich gleich. Er mußte hier weg. Von diesem Toten ging etwas aus, was ihn beunruhigte - und das war noch vorsichtig ausgedrückt.

Voller Ungeduld wartete er, daß die Haustür aufging und sein Kollege herauskam. Clausen blickte erstaunt und setzte zu einer Frage an, doch Bremer gab ihm keine Gelegenheit, sie zu stellen. Er trat rasch an ihm vorbei ins Haus, wobei er mit einer geschickten Drehung des Oberkörpers der zufallenden Tür auswich, steuerte den Aufzug an und rannte die letzten Schritte, als sich die Türen zu schließen begannen. Seine Hand schnellte vor und glitt durch die Lichtschranke, und als er in die Kabine trat, war sein Schwung so groß, daß er beinahe gegen die Rückwand geprallt wäre. Es hätte des Anblicks seines eigenen schreckensbleichen Gesichts in dem deckenhohen Spiegel davor kaum mehr bedurft, um Bremer klarzumachen, was er hier tat. Es war nichts weniger als eine Flucht. Aber wovor eigentlich?

Die Lifttüren begannen sich erneut zu schließen. Bremer hob automatisch die Hand nach den Kontrollknöpfen, bemerkte dann aber, daß das Licht für die achte Etage bereits brannte. Nervös ließ er den Arm wieder sinken, fuhr sich mit dem Handrücken über das Kinn und zählte in Gedanken und mit angehaltenem Atem bis zehn; ein weiterer Trick, der ihm oft geholfen hatte, gefaßter zu erscheinen, als er war. Heute funktionierte er nicht. Seine Nervosität legte sich tatsächlich ein wenig, aber die Beunruhigung blieb. Was war nur mit ihm los?

Der Aufzug summte mit enervierender Langsamkeit nach oben. Bremer starrte wie hypnotisiert auf die wechselnden Lichter, die das jeweils passierte Stockwerk anzeigten, und als die Sieben der Acht wich und sich die Lifttüren vor ihm spalteten, hatte er sich wieder völlig in der Gewalt. Er verstand noch immer nicht, was gerade mit ihm los gewesen war, aber er war Profi genug, diese Frage auf später zu vertagen; die Liste der unangenehmen Dinge, die ihn in dieser Nacht noch erwarten mochten, war auch so schon lang genug.

Bremer trat aus dem Aufzug und sah gleichzeitig auf die Uhr. Sie waren nicht allzuweit vom Präsidium entfernt - wenn Sendig wirklich sofort losgefahren war, dann mußte er jeden Moment eintreffen. Er wandte sich nach rechts und ging den hell erleuchteten Hausflur entlang. Hinter den meisten Türen brannte ebenfalls Licht, eine oder zwei standen auch offen. Bremer ignorierte sie, schritt schneller aus und erreichte schließlich die Tür, hinter der das Apartment des Selbstmörders liegen mußte.

Ein vielleicht fünfzigjähriger dunkelhaariger Mann in Pantoffeln, Schlafanzug und einem hastig darübergeworfenen blauen Kittel kniete davor und machte sich mit ungeduldigen Bewegungen daran zu schaffen, wobei er unentwegt vor sich hin murmelte. Clausens Kollege - ein junger Bursche, der kaum älter sein konnte als Hansen, rothaarig war und dessen Name Bremer vergessen hatte - stand neben ihm, ebenso vergeblich wie tapfer bemüht, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Als er Bremer sah, machte sich ein erleichterter Ausdruck auf seinem Gesicht breit. Ganz offenbar hatte es ihm nicht besonders gefallen, hier oben allein gelassen zu werden. Kinder, dachte Bremer. Natürlich war es ein reiner Zufall, daß Clausen und er beide in dieser Nacht mit einem Anfänger auf Streife gefahren waren, aber das änderte nichts daran, daß man Kinder nicht in eine Uniform stecken und auf die Menschheit loslassen sollte; ebensowenig wie die Menschheit auf sie. Bremer war schon immer dieser Meinung gewesen. Der Ausdruck in Hansens Augen vorhin harte ihn darin nur bestärkt.

Er nickte dem jungen Beamten flüchtig zu und wandte sich sofort an den Mann im Pyjama. »Sie sind der Hausmeister hier?«

Der andere sah auf und kniff das linke Auge zusammen. »Ihr Kollege -«

»Ich habe ihn abgelöst«, unterbrach ihn Bremer. »Wie ist Ihr Name?«

»Schraiber«, antwortete der Hausmeister. »Mit ai. Hab' gar nicht gemerkt, daß Ihr Kollege weggegangen ist. War viel zu sehr mit diesem Scheißschloß hier beschäftigt. So was hab' ich noch nicht erlebt, das können Sie mir glauben. Und ich bin jetzt seit zwanzig Jahren in diesem Job. Hab' immer gedacht, es gibt kein Schloß, das ich nicht aufkriege. Aber das...«

Er schüttelte heftig den Kopf und wandte sich wieder dem Schloß zu, das im Grunde ganz harmlos aussah. Zumindest auf den ersten Blick schien es sich um nichts anderes als ein ganz normales Sicherheitsschloß zu handeln, das in einer ganz normalen Teakholztür eingebaut war. Was diesen Eindruck vielleicht ein bißchen störte, waren die zahlreichen Kratzer, die die Tür rings um das Schloß herum verunzierten, und das halbe Dutzend abgebrochener Schraubenzieher, Bohrer und Dietriche, die vor den Knien des Hausmeisters verstreut waren. In den Kratzern schimmerte es silbern. Unter dem Teakholzfurnier verbarg sich massives Metall.

»Sind alle Türen in diesem Haus so stabil?« fragte Bremer.

»Stabil?« Schraiber lachte schrill und versuchte zum dritten Mal vergeblich, die Schneide eines Stechbeitels zwischen Tür und Rahmen zu schieben. »Scheiße, nein. Eigentlich sind sie aus besserer Pappe. Ist ein Wunder, daß hier nicht öfter eingebrochen wird, wissen Sie. Sie brauchen nur dagegenzufurzen, und sie fallen um.«

Bremer warf einen fragenden Blick ins Gesicht seines rothaarigen Kollegen und erntete die Andeutung eines Schulterzuckens und eine Grimasse.