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»Was wußten Sie nicht, Sie Narr?« fragte Sendig. »Daß Sie aus Ihrem eigenen Sohn ein Ungeheuer gemacht haben? Daß Sie sich an Dingen vergangen haben, mit denen niemand herumspielen darf? Wissen Sie überhaupt, was Sie getan haben?«

»Ja«, antwortete Sillmann. Sendigs scharfer Ton war eindeutig der falsche gewesen. Er weckte nur seinen Trotz. »Wir wußten es, damals. Wir wollten etwas erschaffen. Etwas Großes und Einmaliges, das ein Segen für die gesamte Menschheit hätte werden können?«

»Ein Monster?« fragte Sendig. »Sie... Sie haben Monster aus diesen Kindern gemacht! Ungeheuer, die mit der bloßen Kraft ihrer Gedanken töten können! Aus Ihren eigenen Kindern!«

Sillmann lachte. »Sie wissen ja nicht einmal, wovon Sie reden«, sagte er. »Ich habe den ersten Menschen auf dieser Welt erschaffen, der sein geistiges Potential wirklich nutzen kann! Er wäre ein Übermensch geworden! Vielleicht ein neuer Messias! Vielleicht der erste wirkliche Messias!«

»Und warum hat es nicht funktioniert?« fragte Sendig hämisch.

Sillmann sah ihn sekundenlang voller Trauer und Schmerz an, und deutete dann auf das Buch, das zwischen ihnen auf dem Boden lag.

»Deshalb«, sagte er.

55. Kapitel

Haymar betrat die Treppe als erster. Die Stufen waren so ausgetreten und glatt, daß er nicht so schnell laufen konnte, wie er es wollte - ein einziger Fehltritt auf dieser Treppe konnte fatale Folgen haben, und ein gebrochenes Genick war schließlich auch tödlich. Trotzdem brauchte er nur wenige Augenblicke, um die Grenze zwischen gleichmäßiger und flackernder Helligkeit zu erreichen, die die Treppe in zwei ungleiche Hälften teilte. Er sah zurück, um nach Andres und Lech Ausschau zu halten. Lech war dicht hinter ihm, während Andres ein gutes Stück zurückgefallen war und immer langsamer ging.

In der Tür über ihm erschien ein Schatten. Er war eigentlich viel zu groß, um in die Tür hineinzupassen: ein Riese von mehr als zwei Metern, die noch einmal um ein gutes Stück vom gewaltigen Schwingenpaar übertroffen wurden, das sich über seinen Schultern spannte, aber er stand trotzdem dort oben, aller Logik zum Spott. Er war vollkommen dunkel, nicht schwarz, sondern dunkel, wie ein Wesen, das nicht in dieses Universum gehörte und von dessen Licht nicht erhellt werden konnte.

Lech sah das Ding im gleichen Augenblick wie er und schrie entsetzt auf, riß aber zugleich auch seine Waffe in die Höhe. Haymar wollte sie beiseite schlagen, aber der Anblick des geflügelten Kolosses dort oben lahmte ihn für einen Sekundenbruchteil. Seine Bewegung kam zu spät. Lech riß den Abzug durch, und der Feuerstoß jagte heulend und nur um Haaresbreite an Andres vorbei. Mindestens eine der Kugeln traf ihn, denn er schrie ebenfalls auf und taumelte gegen die Wand, während die übrigen Geschosse rechts und links des schwarzen Ungeheuers gegen den Stein prallten und Funken schlugen. Falls das Monstrum getroffen worden war, zeigten diese Treffer nicht die mindeste Wirkung.

Andres begann an der Wand zusammenzusacken, aber bevor er den Boden erreicht hatte, hob der schwarze Riese den Arm und streckte die Hand in einer zornig deutenden Bewegung nach ihm aus, und plötzlich erstrahlte die Treppe in loderndem Feuerschein. Eine gleißende Lohe hüllte Andres ein, riß ihn in die Höhe und schleuderte ihn brennend und mit weit ausgebreiteten Armen in die Tiefe.

Haymar warf sich entsetzt zur Seite, als Andres wie ein lebendes Feuerkreuz auf ihn zuflog, prallte gegen die Wand und riß die Arme vor das Gesicht. Etwas Weiches, unglaublich Heißes streifte seine Hüfte und riß ihn von den Beinen. Er fiel, hörte Lech schreien und sah aus den Augenwinkeln, wie Andres' Leichnam weit unter ihnen auf den Treppenstufen aufschlug und brennend weiterrollte. Seine Arme und Beine pendelten wie die Glieder einer Stoffpuppe, was für einen Moment den grauenhaften Eindruck erweckte, als lebe er noch. Aber er konnte nicht mehr leben. Lechs Schüsse mußten ihn getötet haben, und wenn nicht sie, dann spätestens der fürchterliche Aufprall auf der Steintreppe. Er durfte nicht mehr leben. Haymar gestattete sich nicht, diesen Gedanken auch nur zu denken.

Keuchend stemmte er sich hoch und sah nach oben. Der Schatten war verschwunden, die Tür wieder nichts als ein helles, von weißem Licht erfülltes Rechteck. Wäre da nicht der Feuerschein gewesen, der Andres' brennenden Leichnam umgab, hätte alles nur ein Alptraum sein können.

»Haymar!« wimmerte Lech. »Was... was war das? Was ist das für ein Ding?«

Er war am Ende seiner Kraft. Wie Haymar war er an der Wand zu Boden gesunken. Er zitterte am ganzen Leib, und in seinen Augen flackerte etwas, das fast so heiß und verzehrend war wie das Feuer unter ihnen.

»Reiß dich zusammen!« fuhr Haymar ihn an. »Es ist der Junge, verstehst du? Wir müssen ihn erwischen! Wir müssen ihn umbringen, oder er tötet uns!«

Die letzten Worte hatte er geschrien, aber er war nicht sicher, ob Lech sie überhaupt gehört hatte. Er hockte noch immer zitternd am Boden und starrte aus weit aufgerissenen Augen dorthin, wo der schwarze Engel gestanden hatte.

Haymar versuchte nicht noch einmal, ihn aus seiner Erstarrung zu reißen. So schnell er konnte, richtete er sich auf, fuhr herum und begann die Treppe hinunterzurennen.

56. Kapitel

Bremer starrte fassungslos auf das Buch. Es war an der Stelle aufgeklappt, an der es jahrelang aufgeschlagen irgendwo hier gelegen haben mußte, ohne daß irgend jemand es bemerkte oder begriff, was er da sah. Bremer begriff es nur zu gut.

Die Zeichnung zeigte den Engel. Seinen Engel. Den schwarzen Giganten, den er gesehen und der ihn gejagt hatte. Es mußte ein Holzstich aus dem Mittelalter sein, oder zumindest eine sehr geschickte Kopie, denn das Bild wirkte auf jene Weise zugleich ungelenk und grob wie auch ungemein dynamisch und lebendig, wie es manchen dieser alten Stiche eigen war. Eine hochgewachsene, dunkle Gestalt mit Klauenhänden und riesigen schwarzen Flügeln, die wie aus Stahl geschmiedet aussahen, eher Klingen als Federn. Sie trug ein bodenlanges Gewand, das nur die nackten Füße sichtbar ließ, und das Gesicht war nicht zu erkennen. In kalligraphischen, geschwungenen Buchstaben stand darunter: AZRAEL.

»Der biblische Würgeengel«, flüsterte er erschüttert.

»Er muß dieses Buch in meiner Bibliothek gefunden haben«, sagte Sillmann leise. Er lachte bitter. Es hörte sich an wie ein erstickter Schrei. »Ist das nicht eine besondere Ironie? Es ist sehr wertvoll, und deshalb habe ich ihm immer verboten, es anzufassen. Aber irgendwann hat er es doch getan und dieses Bild entdeckt.«

»Sie... haben es ihm gesagt?« fragte Bremer ungläubig. »Er wußte, daß Sie mit ihm experimentieren?«

Sillmann schüttelte den Kopf. »Es war ein Spiel«, sagte er. »Für ihn und die anderen war es nichts als ein Spiel. Sie hatten Träume. Wunderschöne Träume. Aber er... er wußte den Namen des Medikaments.«

»Der Droge«, verbesserte ihn Sendig.

Sillmann hörte es nicht einmal. »Er ist mir einmal herausgerutscht. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Warum auch? Aber dann... dann hat er dieses Buch gefunden und dieses Bild, und... Verstehen Sie denn nicht? Sie waren Kinder! Sie hatten Träume, das war alles.«

Ja, dachte Bremer. Und dann hat er dieses Bild gesehen und das Wort gelesen, und bei seinem nächsten Traum war er Azrael. Der Todesengel. Er sagte nichts. Nach allem, was bisher geschehen war, hatte er geglaubt, daß ihn nichts mehr erschüttern könnte, aber das war nicht die Wahrheit. Gab es eine schlimmere Strafe als das, was Sillmann zugestoßen war?