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»Wir wußten, daß sie sich manchmal heimlich trafen«, fuhr Sillmann leise fort. »Ich war dagegen, aber Löbach hat es zugelassen, und ich habe mich nicht gegen ihn durchsetzen können. In dieser Nacht haben sie sich wieder getroffen, und Mark hat das Buch mitgebracht. Ich habe es hier gefunden. Ebensogut hätte ich ihn selbst erschießen können. Ihn und alle anderen. Mein Gott, was habe ich getan?«

»Was Sie getan haben?« Sendig schnaubte. »Das haben Sie immer noch nicht begriffen, Sie Narr?« Er versetzte dem Buch einen Fußtritt, der es davonschlittern ließ.

»Wissen Sie, wie viele Menschen gestorben sind, nur deswegen? Sie... Sie haben etwas in ihm geweckt, das nicht geweckt werden darf. Und bei alledem hatten Sie noch Glück, daß Ihr Sohn halbwegs normal ist. Was glauben Sie, wäre passiert, wenn das Zeug in die Hände eines echten Psychopathen geraten wäre? Besser gesagt, in seinen Geist!«

Sillmann sah ihn verwirrt an, und Sendig fuhr fort: »Sie wissen es nicht, wie?«

»Was?«

»Es betrifft nicht nur ihn oder Sie und uns und Löbach«, antwortete Sendig erregt. Er deutete heftig gestikulierend auf Mark hinab. »Er hat angefangen, sich zu rächen. Er hat in den letzten vierundzwanzig Stunden alle getötet, die irgendwie mit der Sache von damals zu tun hatten. Einfach, weil er es wollte.«

»Aber das... das ist unmöglich«, sagte Sillmann verwirrt. »Das ist vollkommen ausgeschlossen! Er... er hat nur Einfluß auf Menschen, die ebenfalls AZRAEL genommen haben.«

»Ach?« fragte Sendig hämisch. »Wie auf Löbach, meinen Sie?«

»Ja.«

»Sie irren sich«, sagte Sendig. »Sie sind alle tot. Mogrod - der Fotograf, der damals überall herumgeschnüffelt hat -, der Pathologe, der die Leichen untersucht hat, ein paar unserer Kollegen, Artner... und wahrscheinlich noch viele mehr.«

»Ich spüre es auch«, sagte Bremer leise. Er deutete auf das Buch, das zwar weiter entfernt, aber noch immer auf die gleiche Weise aufgeschlagen da lag. »Ich habe ihn gesehen.«

Sillmann erbleichte. Seine Lippen begannen zu zittern. »Mein Gott«, sagte er. »Das... das kann nicht sein. Petri hatte recht.«

»Womit?« fragte Bremer.

»Aber das ist unmöglich«, flüsterte Sillmann. »Das darf nicht sein!«

»Was?« fragte Bremer noch einmal. Er mußte sich plötzlich mit aller Kraft beherrschen, um Sillmann nicht am Kragen zu packen und zu schütteln. »Wovon reden Sie?«

»Petri«, antwortete Sillmann mit bebender Stimme. »Er... er hat uns gewarnt. Er hat gesagt, es konnte sich... ausbreiten.«

»Ausbreiten?« wiederholte Bremer. »Wie meinen Sie das?«

»Es... es ist im Blut«, stammelte Sillmann. »Verstehen Sie doch! Großer Gott, er hatte recht. Es... es wirkt wie eine Infektion. Es ist im Blut, und es... es breitet sich aus.«

»Moment mal!« sagte Sendig. Er schluckte hörbar und tauschte einen entsetzten Blick mit Bremer. »Sie meinen, wie... wie Aids?«

»Schlimmer«, antwortete Sillmann. »Aber das kann nicht sein. Es ist unmöglich, verstehen Sie! Es ist eine Droge, keine Krankheit. Es kann nicht so wirken!«

Aber das war die Antwort, dachte Bremer erschüttert. Die Erklärung - die einzige Erklärung, die Sinn machte. Sie alle waren irgendwie mit Marks Blut in Berührung gekommen, oder dem eines anderen AZRAEL-Jüngers. Mogrod, der damals hier herumgeschnüffelt und alles angefaßt und fotografiert hatte. Der Pathologe, der die Leichen untersuchte. Löbach sowieso. Artner, der mit Claudia Löbach geschlafen hatte, wie die Videos bewiesen, die sie in seinem Schrank gefunden hatten.

Und es bedeutete noch etwas.

Langsam hob er den Kopf und sah zu Sendig hoch. »Sie dämlicher Idiot«, sagte er ganz ruhig. »Sie waren niemals in Gefahr, verstehen Sie?«

»Was?« fragte Sendig.

»Es ist sein Blut gewesen«, sagte Bremer. »Das und das der anderen. Hansen hat praktisch darin gebadet, als Löbach uns vor die Füße gesprungen ist, und ich habe wohl auch etwas abbekommen, ohne es zu merken. Deshalb ist es bei mir nicht so schnell gegangen. Und deshalb haben Sie nichts gemerkt.«

Er stand auf. Sendig wich instinktiv einen halben Schritt vor ihm zurück und richtete die Waffe auf ihn, aber das ignorierte Bremer. »Deshalb wollten Sie doch, daß ich in Ihrer Nähe bleibe, nicht wahr?« fragte er. »Nicht, weil Sie mich brauchten. Weil Sie mich beobachten wollten.«

Sendig starrte ihn an. Er verlor jetzt immer schneller die Fassung, und in immer größerem Ausmaß. Zitternd drehte er sich im Kreis, starrte auf die Toten am Boden herab und schließlich auf die Waffe in seiner Hand. Er wimmerte leise. »Mark«, stammelte er. »Was... was habe ich... er ist...«

»Es war alles umsonst«, sagte Bremer. »Sie waren nie in Gefahr.« Er versuchte Sendig zu hassen, aber er konnte es nicht. Nicht einmal das. Alles, was er für Sendig jetzt noch empfand, war bloße Verachtung. Langsam drehte er sich wieder zu Sillmann herum. »Bin ich in Gefahr?« fragte er.

»Nein«, antwortete Sillmann leise. »Ich glaube nicht. Es ändert nicht den Charakter. Er ist kein Mörder. Er war nur ein Kind, das nicht wußte, was es tat.«

»Aber ich habe es auch, nicht wahr?« fragte Bremer.

Sillmann antwortete nicht, aber das brauchte er auch nicht. Ob das, was er ihnen gerade über AZRAEL erzählt hatte, die Wahrheit war? - Und verdammt noch mal, es war die Wahrheit, das spürte Bremer, denn das war es, was er die ganze Zeit über in seinem Innern gefühlt hatte: nicht die Gespenster, die Mark ihm schickte, sondern die Gespenster seiner eigenen Seele, die Ungeheuer, die in ihm lauerten und die die Droge nun allmählich entfesselte. Und mit ebensolcher Gewißheit spürte er, daß es längst nicht damit aufhören würde. Sillmann und Löbach waren möglicherweise die Erfinder der Droge, aber sie hatten selbst nicht geahnt, was sie da schufen. Er hatte es gesehen. Das Ding in der Gasse war Realität gewesen, keine Halluzination. Ebensowenig wie das Mädchen. Seine Macht beschränkte sich längst nicht mehr darauf, Bilder zu erschaffen. Sillmann hatte die Wahrheit ausgesprochen, ohne es zu wissen. Er hatte etwas wie einen neuen Messias erschaffen, einen sterblichen, verwundbaren Gott, aus Fleisch und Blut vielleicht, und doch ein Wesen mit der Macht der Schöpfung. Er hatte den Menschen wiedererschaffen, den er auf der ganzen Welt am meisten geliebt hatte. Was, dachte Bremer schaudernd, wenn diese ungeheure Macht tatsächlich in die Hände eines Wahnsinnigen geriet, wie Sendig es gerade gesagt hatte?

Was, wenn er dieser Wahnsinnige war? Die Veränderung hatte schon eingesetzt. Nicht lange, vielleicht nur mehr wenige Jahre, vielleicht sehr viel kürzer, und er würde über die gleiche Macht zum Schöpfen und Zerstören verfügen wie dieser sterbende Junge da?

Aber er wollte kein Gott sein.

Mark bewegte sich. Irgend etwas geschah mit ihm, etwas Unvorstellbares, das viel stärker zu fühlen als zu sehen war. Er schrie auf, schleuderte seinen Vater mit einer einzigen, zornigen Bewegung seiner Arme von sich und rollte über den Boden. Seine Glieder zuckten. Blutiger Schaum erschien vor seinem Mund, seine Augen verdrehten sich und wurden plötzlich schwarz.

Bremer prallte entsetzt zurück. Mark schrie immer lauter. Seine Glieder zuckten wie unter gewaltigen Stromstößen, und sein Kreischen hatte nichts Menschliches mehr. Sein Körper schien zu kochen. Große, pulsierende Blasen bildeten sich auf seiner Haut und vergingen wieder, seine Arme und Beine verbogen sich auf unmögliche Weise, und sein ganzer Körper wirkte mit einem Male deformiert, als begänne er den Halt zu verlieren.