Es war das Entsetzlichste, was Bremer jemals gesehen hatte. Und die Veränderung hielt an. Mark hörte auf zu schreien, aber sein Körper... verwandelte sich.
Bremer wich einen weiteren Schritt zurück. Irgend etwas klirrte, und als er den Blick senkte, sah er die Splitter der zerbrochenen Spritze unter seinem Schuh. Das Bild führte zu einer blitzartigen Assoziation. Er sah die Nadel in Marks Arm - aber mit einem Male war es nicht mehr sein Vater, der sie hielt, sondern Sendig, und in der Vision war Mark auch nicht mehr in diesem Keller, sondern oben im Krankenwagen. Dann sah er ein weiteres Bild: Sendig, gestern nacht, der etwas aus Löbachs Kühlschrank nahm und in der Tasche verschwinden ließ.
Und dann wußte er es.
Entsetzt drehte er sich zu Sendig herum. »Was haben Sie getan?« fragte er. Seine Stimme brach fast. »Was... was haben Sie ihm gegeben?«
Sendig starrte nur abwechselnd ihn und das zuckende, zerfließende Etwas auf dem Boden an, aber Bremer hätte ihm gar keine Zeit gelassen, zu antworten. Blitzartig packte er ihn an den Aufschlägen seines Mantels und schüttelte ihn wild. Sendigs Pistolenlauf bohrte sich unter sein Kinn, aber das ignorierte er. In diesem Moment hätte er sich fast gewünscht, daß er abdrückte.
»Sie haben ihm die Droge gespritzt!« schrie er. »SIE WAHNSINNIGER HABEN IHM AZRAEL GESPRITZT!«
Sendig stieß ihn mit erstaunlicher Kraft von sich. Bremer fiel, schlitterte ein Stück über den Boden und sprang sofort wieder hoch. Er erstarrte, als sein Blick auf Mark fiel. Auf das, was einmal Mark gewesen war.
Er war kein Mensch mehr. Sein Körper war zu einem schwarzen, zuckenden Etwas geworden. Vielleicht lag es an der Überdosis, die Sendig ihm gegeben hatte, vielleicht an der Kombination der beiden Mittel, die in seinen Adern pulsierten, vielleicht erlebten sie auch nur das Endstadium der unheimlichen Veränderung, die sein Vater und Löbach vor so vielen Jahren eingeleitet hatten - Mark verwandelte sich. Das schwarze, brodelnde Etwas zuckte, zog sich zusammen - und dann erschienen die Spitzen zweier gewaltiger, aus gehämmertem Stahl bestehender Flügel darüber, gefolgt von einem massigen Schädel und ungeheuer breiten Schultern. Langsam, wie ein schwarzer Dämon, der aus einem Teersee emportaucht, stieg das Ungeheuer weiter, wuchs und gewann an Form und Festigkeit.
, Es war das Monstrum aus seiner Vision, Azrael, der Racheengel, der gekommen war, um biblische Gerechtigkeit zu üben.
Sendig schrie - ein einziges Mal, hoch, spitz und hysterisch - und verstummte dann wieder. Sillmann sagte nichts. Er gab keinen Laut von sich, sondern stand einfach da und blickte den schwarzen Engel an, und plötzlich ging auch mit ihm eine Veränderung vor sich, die Bremer vielleicht nicht so spektakulär, aber fast ebenso dramatisch erschien. Er konnte sehen, wie alle Angst, alle Verzweiflung und alle Schuld von ihm abfielen. Eine Sekunde bevor Azrael ihn erreicht hatte, begann er zu lächeln, und zum allerersten Mal, seit Bremer ihn kannte, sah er glücklich aus.
Dann erreichte ihn der schwarze Gigant, ergriff ihn auf eine fast behutsame Art mit beiden Händen und riß ihn in zwei Stücke.
Sendig schrie auf, krümmte sich auf der Stelle und übergab sich, während Bremer wie von einem Hammerschlag getroffen zurücktaumelte und gegen die Wand fiel. Alles drehte sich um ihn. Er hörte einen furchtbaren doppelten Aufprall, Sendigs würgende Geräusche, die sich mit seinen Schreien mischten, und dann eine andere Stimme, die gellend aufschrie.
Als er die Augen öffnete, stand Azrael hoch aufgerichtet zwischen ihm und Sendig. Seine Hände waren rot von Sillmanns Blut, und er hatte die Schwingen gespreizt, so daß die rasiermesserscharfen Klingen an ihren Enden beinahe die Wände berührten. Er war ungeheuer groß. Der Blick der schwarzen Augen richtete sich auf ihn, und Bremer hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Bremer krümmte sich, als er die unvorstellbare Macht spürte, die dieses Wesen ausstrahlte, eine Macht, der keine Grenzen gesetzt waren, zu erschaffen, aber auch zu verheeren.
Aber er spürte auch, daß er nicht in Gefahr war. Das Geschöpf war nicht gekommen, um ihn zu vernichten. Es war gekommen, um Rache zu üben, und es hatte seine Aufgabe erfüllt.
Wieder hörte er einen Schrei. Bremer fuhr herum und sah zwei Männer in dunklen Anzügen unter der Tür stehen, die die schwarze Gestalt fassungslos anstarrten. Beide waren mit unterschiedlich großen Maschinenpistolen bewaffnet, die sie auf die riesige Engelsgestalt gerichtet hatten. Dann erkannte Bremer einen von ihnen wieder - es war der Bursche, den Sendig und er überwältigt hatten.
»Nein!« schrie Sendig. »Nicht! Tut es nicht!«
Es war zu spät. Sein eigener Schrei hatte den Bann gebrochen, unter dem die Männer standen. Die Waffen hoben sich, aber noch bevor sie abdrückten, riß Sendig seine eigene Pistole in die Höhe und schoß dem einen in die Brust. Der Mann stürzte nach hinten und war auf der Stelle tot, aber der andere schwenkte seine Waffe herum und riß den Abzug durch. Die Salve traf Sendig aus unmittelbarer Nähe und zerschnitt ihn fast in zwei Hälften, aber der Mann hörte nicht auf zu schießen. Ohne den Finger vom Abzug zu nehmen, schwenkte er die MPi herum und feuerte auf den schwarzen Engel.
Der Raum schien unter dem Lärm der MPi-Salve zu explodieren. Querschläger heulten davon und schlugen Funken aus den Wänden, aber die meisten Geschosse trafen ihr Ziel. Der schwarze Gigant taumelte.
Aber er fiel nicht.
Der Agent jagte Schuß auf Schuß in die riesige geflügelte Gestalt, aber der Gigant bewegte sich trotzdem weiter. Langsam, aber auch unaufhaltsam, trat er auf den Mann zu. Seine Arme hoben sich, furchtbare Krallen streckten sich nach dem Mann mit der MPi aus. Seine Schwingen schlugen, so daß Bremer sich ducken mußte, um nicht getroffen und wahrscheinlich ebenfalls getötet zu werden.
Der Hammer der MPi schlug plötzlich klickend ins Leere. Das Magazin war verschossen. Der Agent schrie vor Angst und Zorn, tauchte unter den Klauen des Riesen hinweg und versuchte die Waffe seines toten Kollegen zu erreichen. Es gelang ihm, aber gleichzeitig traf ihn auch ein furchtbarer Hieb. Die kleine UZI in beiden Händen haltend, rollte er quer durch den Keller, prallte gegen die jenseitige Wand und blieb einen Moment benommen liegen.
Als er sich aufrichtete, war der Todesengel über ihm. Seine Hände schlössen sich um seine Kehle, und dann falteten sich die gewaltigen Schwingen wie ein riesiger schwarzer Vorhang um sein Opfer zusammen. Bremer hörte ein furchtbares, knirschendes Geräusch, wie von Knochen, die zermalmt wurden.
Aber es war nicht vorbei. Plötzlich hörte er das Hämmern der MPi wieder, leiser und gedämpfter diesmal, aber auch viel näher. Der Engel bäumte sich auf. Seine Flügel schlugen, während er zurücktaumelte und gegen die Wand fiel. Und der Agent feuerte noch immer, jagte Dutzende von Geschossen aus allernächster Nähe in seinen Körper, und diesmal zeigten sie Wirkung. Es war so, wie Bremer vermutet hatte: Er war eine Art Gott, aber er war sterblich.
Der Mann schoß seine Waffe komplett leer, sprang zurück und nestelte mit zitternden Fingern ein neues Magazin aus der Jackentasche, das er hastig gegen das verbrauchte austauschte, ehe er die MPi wieder auf seinen Gegner richtete.
Er mußte nicht mehr schießen.
Der Engel starb. Seine Schwingen falteten sich ein letztes Mal auseinander und sanken dann kraftlos herab. Er brach in die Knie. Einen Moment lang blieb er fast reglos so sitzen, dann sank er ganz langsam zur Seite, und während er fiel, verwandelte er sich wieder und wurde wieder zu dem Menschen, als der er geboren worden war. Was auf dem Kellerboden aufschlug, das war kein Todesengel mehr, sondern es waren die zerrissenen Überreste eines Menschen, der wahrscheinlich niemals mehr in seine ursprüngliche Gestalt zurückkehren wollte.