Bremer starrte das entsetzliche Bild an. Er versuchte vergeblich, irgend etwas anderes als Furcht zu empfinden. Aber es war keine Furcht vor dem Anblick absoluten Terrors, der sich ihm bot. Er hatte keine Angst mehr vor dem Tod, vor Blut oder Schmerzen oder dem Sterben. Er trauerte nicht einmal um Mark. Er sah nur den Mann aus der Gasse an.
Der Agent stand schwer atmend über den Toten gebeugt da. Er zitterte am ganzen Leib, und er bot einen kaum weniger furchteinflößenden Anblick als Marks zerschossener Leichnam. Sein Körper war über und über mit Blut besudelt, von dem wahrscheinlich das Wenigste von ihm selbst stammte. Und plötzlich bekam Bremers Furcht eine neue, noch viel größere Dimension. Es war nicht vorbei. Vielleicht begann es erst.
Er griff in die Tasche. Sie war leer. Er war unbewaffnet gekommen. Sein Blick irrte suchend durch den Raum und blieb schließlich an Sendigs Leiche hängen und der Pistole, die sie noch immer in der Hand hielt.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, drehte sich der Agent in diesem Moment herum und sah ihn an. Sein Gesicht war eine dunkelrote, glitzernde Maske, in der die Augen wie zwei leuchtende Wunden aussahen.
»Versuch es nicht«, sagte er. »Mit dir habe ich nichts zu tun.«
»Ich weiß«, sagte Bremer. Eine plötzliche kalte Ruhe hatte ihn ergriffen, und alle Gefühle fielen von ihm ab. Er hatte keine Chance, aber er mußte es wenigstens versuchen.
Bremer sprang mit weit vorgestreckten Armen los, prallte zwei Meter von Sendig entfernt auf den Boden und schlitterte das letzte Stück über den rauhen Stein. Seine Hände schlössen sich um die Pistole.
Das letzte, was er in seinem Leben hörte, war das Rattern der MPi-Salve, mit der Haymar ihn erschoß, aber während er starb, empfand er nichts als eine tiefe, unendlich tiefe Erleichterung, daß er es wenigstens als Mensch hatte tun können.
57. Kapitel
Der Fabrikhof war von loderndem Feuerschein erfüllt, als Haymar aus dem Haus taumelte. Überall standen Polizei-, Feuerwehr- und Krankenwagen, und der Platz vor dem Laborgebäude wimmelte von Uniformierten.
Jemand schrie erschrocken auf, als er ihn bemerkte, und drei oder vier Männer rannten gleichzeitig auf Haymar zu. Er hatte nicht mehr die Kraft, ihnen entgegenzugehen, sondern sank erschöpft auf die Knie. Stimmen und Lärm und Licht wurden zu einem irrsinnigen Kaleidoskop, das immer schneller und schneller um ihn kreiste, und er spürte, wie er berührt und angefaßt wurde und schließlich hochgehoben. Er wehrte sich nicht dagegen, sondern sehnte sich statt dessen danach, endlich das Bewußtsein zu verlieren, diese fürchterlichen Bilder endlich vergessen zu können, die er unten in diesem Alptraumkeller gesehen hatte.
Aber irgend etwas sagte ihm, daß das nie wieder im Leben der Fall sein würde. Und auch die Gnade einer Bewußtlosigkeit wurde ihm nicht zuteil. Er glitt für eine nicht meßbare, aber auch nicht allzu lange Zeit an ihrem Rand entlang, aber statt in die erlösende Dunkelheit hihabzutauchen, wurde es allmählich wieder hell um ihn, und die Dinge bekamen wieder erkennbare Konturen, bloße Laute wurden zu verständlichen Worten.
Er lag in einem Krankenwagen. Ein Arzt in einem weißen Kittel beugte sich über ihn und stach gerade ziemlich unsanft eine Nadel in seine Vene, und irgend jemand war dabei, ihm die Schuhe auszuziehen. Er hatte Schmerzen.
Der Arzt zog überrascht die Brauen zusammen, als er sah, wie Haymar die Augen öffnete. »Sie sind wach!« sagte er. »Bewegen Sie sich nicht. Haben Sie Schmerzen?«
»Es... geht«, sagte Haymar mühsam. Um ihn herum drehte sich noch immer alles, und in den tanzenden Lichtern waren noch andere Dinge: schwarze, gräßliche Dinge mit Klauen und reißenden Krallen. Er stöhnte.
»Sie werden gleich schlafen«, sagte der Arzt. »Machen Sie sich keine Sorgen. Sie sahen fürchterlich aus, aber ich glaube, Sie sind nicht lebensgefährlich verletzt. All dieses Blut... das ist doch nicht Ihres, oder?«
Haymar hätte den Kopf zur Verneinung geschüttelt, hätte er die Kraft dazu gehabt. So deutete er die Bewegung nur mit den Augen an.
»Was ist denn da unten nur passiert?« fragte der Arzt, und von der Tür her sagte eine Stimme: »Das möchte ich auch gerne wissen. Lassen Sie uns einen Moment allein, Doc.«
Der Arzt fuhr ebenso erschrocken wie erbost herum, und auch Haymar kratzte irgendwie noch die Kraft zusammen, den Kopf zu drehen.
Unter der offenstehenden Hecktür des Krankenwagens war ein schlanker, dunkelhaariger Mann in einem blauen Maßanzug erschienen. Er musterte den Arzt auf eine Weise, auf die ein anderer vielleicht einen lästigen Hund betrachtet hätte, ehe er ihm einen Tritt gab, dann kam er näher, schob ihn einfach zur Seite und beugte sich über Haymar.
»Was fällt Ihnen ein?« fragte der Arzt. »Machen Sie, daß Sie hier rauskommen. Sofort!«
»Gleich«, antwortete der Fremde - der er allerdings nur für den Arzt war. Für Haymar nicht. Er kannte ihn. Sein Name war Treblo, und er war nicht wesentlich jünger, als Berger es gewesen war, und ein womöglich noch unangenehmerer Chef. Jetzt, nach Bergers Tod, sogar sein unmittelbarer Vorgesetzter. Irgend etwas an diesem Gedanken entsetzte Haymar fast, aber zugleich hatte er auch das absurde Gefühl, daß dieses Entsetzen unbegründet war. Er sah Treblo aus Augen an, aus denen das Bewußtsein nun doch allmählich zu schwinden begann, und er wünschte sich, daß er, wenn er jetzt schlief, wieder seinen Lieblingstraum träumen würde, der, in dem er der Chef war und alle anderen ihm gehorchten und in dem er es ihnen allen zeigen konnte.
»Was ist da unten passiert, Haymar!« fragte Treblo herrisch.
Er bekam keine Antwort. Haymar schlief noch nicht ganz, aber er war auch nicht mehr wach genug, um zu reden. Das Medikament tat jetzt rasch seine Wirkung.
»Lassen Sie den Mann gefälligst in Ruhe!« sagte der Notarzt. »Sie sehen doch, daß er nicht antworten kann. Sie können morgen früh mit ihm sprechen, im Krankenhaus.«
Treblo starrte noch eine Sekunde auf den bewußtlosen Agenten, dann schüttelte er den Kopf, zuckte mit den Achseln und drehte sich von der Liege weg. Wahrscheinlich hatte der Arzt recht.
»Okay«, sagte er. »Bringen Sie ihn ins Krankenhaus. Und machen Sie ihn sauber. Der Kerl sieht ja aus, als hätte er in Blut gebadet.«