»Dann wurde diese Tür also nachträglich eingebaut?« vergewisserte er sich.
»Worauf Sie einen lassen können. Ich hab's nicht mal gemerkt. Und dabei vergeht kein Tag, an dem ich nicht eine Runde durch das Haus drehe. Weiß der Teufel, was in Löbach gefahren ist.«
»Löbach?«
»Doktor Löbach«, sagte Schraiber, schlug mit der flachen Hand auf den Griff des Stechbeitels und fluchte, als er sich dabei die Hand prellte und die Schneide des Werkzeugs mit einem trockenen Knacken abbrach. »Er wohnt hier.«
»Seit wann?« Bremer hob automatisch den Blick und sah die Wand neben der Tür an. Ein dezent teurer Klingelknopf, aber kein Namensschild. Dafür jedoch in Kopfhöhe das runde Videoauge einer kleinen Kamera.
Der Hausmeister starrte abwechselnd seine schmerzende Hand und den zerbrochenen Stechbeitel an. »Seit fünf... fast sechs Jahren. Ja, sechs Jahre. Ich erinnere mich jetzt. Hatte einen Fünf-Jahres-Vertrag, der im letzten Sommer verlängert wurde.«
»Dr. Löbach, sagen Sie. Ein Arzt?«
»Glaube ich nicht. Ich weiß nicht viel über ihn. Hat wenig gesprochen und so gut wie keinen Kontakt zu den anderen Mietern hier im Haus gehabt. Ich glaube, er war Physiker oder so was. Hatte jedenfalls 'ne Menge Geld. Der Daimler unten vor dem Haus, das war seiner.«
»Der Wagen, auf den er -«
»Dem er aufs Dach gesprungen ist, ja«, bestätigte Schraiber. Er stand auf, musterte die Tür noch einmal lange und kopfschüttelnd, dann fügte er in gedankenverlorenem Ton hinzu: »Hat ihn immer vor dem Haus geparkt, obwohl wir eine Tiefgarage unten haben. Ich hab' ihm ein paarmal geraten, den Wagen nicht immer auf der Straße unten stehenzulassen. So ein Schlitten kostet einen Haufen Geld, und heutzutage ist nicht einmal diese Gegend hier, was sie mal war. Aber er hat ja nie auf mich gehört.«
»Haben Sie schon die Nachbarn befragt?« Bremer wandte sich in bewußt sachlichem Ton an Clausens Partner und bekam ganz genau die Antwort, die er erwartete.
»Noch nicht. Polizeihauptmeister Clausen meinte -«
»Dann tun Sie es«, unterbrach ihn Bremer. Fünf Schritte hinter ihm schlössen sich die Aufzugtüren mit einem hellen ›Blink‹, und der Lift setzte sich wieder in Bewegung. Bremer hatte eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, wen er diesmal abholen würde. »Die übliche Prozedur - wer war der Mann, was hat er getan, mit wem hat er verkehrt, hat er sich in letzter Zeit auffällig verhalten... Sie kennen das ja.«
Er schwieg gerade lange genug, um seinen Worten mit einem flüchtigen Lächeln ein bißchen von ihrer Schärfe zu nehmen, ehe er mit einem Nicken zu der Löbachs Apartment gegenüberliegenden Tür hinzufügte: »Fangen Sie dort drüben an.«
Während Clausens Kollege plötzlich seinen Diensteifer wiederentdeckte und ging, um seinem Befehl nachzukommen, sah sich Bremer die Tür zu Löbachs Apartment noch einmal genauer an. Wären die verräterischen Kratzer rings um das Schloß nicht gewesen, hätte man sie für eine ganz normale Wohnungstür halten können. Selbst das Schloß machte einen harmlosen Eindruck. Trotzdem - jetzt, wo er wußte, wonach er zu suchen hatte, fiel ihm doch die eine oder andere Kleinigkeit auf. Die Tür schloß so präzise, daß zwischen Blatt und Zarge nicht einmal ein Haar hineingepaßt hätte. Der Knauf bestand aus massivem Stahl und war wahrscheinlich mit der Tür verschweißt, so daß jeder Versuch, ihn mit einem Werkzeug aufzubrechen, das merklich leichter (und leiser) als ein Vorschlaghammer war, aussichtslos sein mußte. Und es gab kein Schließblech; Zylinder und Tür waren vollkommen plan, und somit gab es auch keinen Ansatzpunkt für einen Hebel oder ein entsprechendes anderes Werkzeug.
Bremer hob die Hand und klopfte leicht mit dem Knöchel gegen die Tür. Sie war so hart, wie er vermutet hatte, und gab nicht das mindeste Echo. Clausen hatte recht gehabt - es war eine Safetür, und eine verdammt gute dazu. Die Arbeit eines Profis. Löbach mußte entweder vollkommen paranoid gewesen sein - oder einen verdammt guten Grund gehabt haben, sich zu schützen. Bremer war nicht ganz sicher, welcher Möglichkeit er den Vorzug geben sollte.
»Ich hab' ein Schweißgerät unten im Keller«, sagte Schraiber. »Wenn Sie mir unterschreiben, daß die Polizei für den Schaden aufkommt, hole ich es. Wir kriegen sie schon auf.«
»Das wird nicht nötig sein«, antwortete Bremer. »Wir haben einen Schlosser bestellt.«
»Der kann auch nichts anderes tun als ich«, sagte Schraiber eingeschnappt. »Außerdem muß ich erst die Hausverwaltung um Erlaubnis fragen. Hier kann schließlich nicht jeder rummachen, wie er will.«
Dein Glück, dachte Bremer. Allmählich begann ihm dieser Wichtigtuer ziemlich auf die Nerven zu gehen. Er ersparte sich eine Antwort, sah den Mann nur einen Moment lang durchdringend an und drehte sich genau im richtigen Moment wieder zum Aufzug, um die Türen auseinandergleiten und Sendig höchstpersönlich herausspazieren zu sehen. Er trug Smoking, Rüschenhemd und eine weinrote Fliege unter einem vollkommen unpassenden Trenchcoat, und wenn schon nicht seine Kleidung, so machte spätestens sein Gesichtsausdruck klar, daß Bremer und er zumindest eines gemeinsam hatten: Sie beide hatten sich den Verlauf dieses Abends anders vorgestellt.
»Herr Kommissar?« Bremer trat dem Kriminalbeamten einen Schritt entgegen und war nicht einmal besonders erstaunt, als Antwort nur einen eisigen Blick zu ernten. Sendig stürmte einfach an ihm vorbei, blieb einen halben Schritt vor Löbachs Apartment abrupt stehen und maß die Tür mit einem raschen, aber sehr aufmerksamen Blick.
»Ist es Löbach?« fragte er.
»Dr. Löbach, richtig.« Bremer mußte sich zusammenreißen, damit Sendig ihm die Überraschung nicht zu deutlich anmerkte. Natürlich konnte Sendig den Namen des Toten von Clausen wissen, aber er hatte eindeutig in einem Ton gesprochen, als ob er diesen Mann tatsächlich kannte. »Ein Physiker, glaube ich.«
»Chemiker, aber sonst stimmt's.« Sendig drehte sich mit einem Ruck zu ihm herum und deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Was ist mit der Tür? Wieso ist sie noch nicht auf?«
»Es gibt ein paar Schwierigkeiten«, gestand Bremer. »Der Hausmeister bekommt sie nicht auf -«
»Ist nicht meine Schuld«, verteidigte sich Schraiber. »Das Scheißding ist so stabil wie ein Geldschrank. Er hätte so was gar nicht einbauen lassen dürfen ohne Erlaubnis.«
»- aber ich habe bereits einen Schlosser angefordert«, schloß Bremer. »Er müßte bald hier sein.«
»Wollen wir's hoffen.« Sendig kramte eine einzelne Zigarette aus der Manteltasche und steckte sie zwischen die Lippen, aber er schüttelte den Kopf, als Bremer ihm Feuer geben wollte.
»Danke, nein. Ich versuche gerade, es mir abzugewöhnen. Haben Sie schon mit den Leuten hier im Haus gesprochen?«
Bremer entfernte sich ein paar Schritte von Sendig und dem Hausmeister, hob das Funkgerät und erkundigte sich in der Zentrale nach dem Verbleib des Schlossers. Er bekam genau die erwartete Antwort: nämlich erstens, daß der Mann unterwegs sei, und zweitens einen Hinweis auf die vorgerückte Stunde, zu der selbst in einer Weltstadt wie Berlin die allermeisten Schlosser in ihrem Bett lagen und schliefen. Er gab die Hälfte dieser Antwort an Sendig weiter und beeilte sich dann, dem Beispiel seines jüngeren Kollegen zu folgen und die Nachbarn zu befragen.
Während der nächsten halben Stunde klingelte Bremer an einem knappen halben Dutzend Türen. Er erfuhr eine Menge über Dr. Klaus Löbach - und zugleich sehr wenig. Nirgends mußte er lange um Einlaß bitten. Sämtliche Bewohner des Hauses schienen ohnehin wach zu sein, und nur die wenigsten versuchten überhaupt, ihre Neugier zu verhehlen. Die meisten Türen wurden geöffnet, noch ehe er die Hand nach dem Klingelknopf ausstreckte, und er bekam bereitwillig Auskunft. Allerdings stellte sich rasch heraus, daß es nicht besonders viel gab, was man ihm über den Bewohner des Apartments achthundertundsiebzehn sagen konnte. Mit Ausnahme seines Namens und der Tatsache, daß er als Chemiker bei irgendeiner großen Firma in der Stadt arbeitete, schien niemand etwas über Löbach zu wissen. Der Mann hatte keinen Kontakt zu seinen Nachbarn gepflegt, war jedem Gespräch aus dem Weg gegangen und hatte die meiste Zeit nicht einmal gegrüßt. Ein Eigenbrötler, der viel auf Achse war und manchmal für Wochen nicht nach Hause kam und der den meisten hier ein bißchen unheimlich gewesen war. Allerdings auch kein Exzentriker. Bremers obligatorische Frage, ob irgend etwas in letzter Zeit auf das hingedeutet hätte, was jetzt geschehen war, wurde stets verneint.