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Ein paar Minuten nach zwei kam endlich der Schlosser. Dem Mann war anzusehen, daß ihn das Telefon aus dem tiefsten Schlaf gerissen hatte, und er machte aus seiner Verärgerung darüber keinen besonderen Hehl. Er schleppte nicht nur einen großen Werkzeugkoffer, sondern auch ein komplettes Schweißgerät mit sich, dessen Gasflaschen in schreiendem Signalrot gespritzt waren und die Abmessungen von Sauerstoffflaschen hatten, wie sie Taucher benutzten. Bremer unterdrückte mühsam ein schadenfrohes Grinsen, als der Mann das zentnerschwere Gerät mit einem Knall so dicht vor Sendigs Füßen ablud, daß der Kommissar sich mit einem hastigen Sprung in Sicherheit brachte.

Bremer hatte auf seiner Hälfte des Flures noch zwei Türen abzuarbeiten, aber er war ziemlich sicher, daß er auch dort nicht mehr über Dr. Löbach erfahren würde als bei den anderen, und da Sendig nichts dagegen zu haben schien, gesellte er sich nach einer Weile wieder zu ihm, um dem Schlosser bei seiner Arbeit zuzusehen.

Der Mann hatte zwar schweres Gerät mitgebracht, versuchte aber zuerst, mit Hilfe eines Dietrichs und eines gebogenen Drahtes das Schloß zu öffnen. Nach einigen Minuten kapitulierte er, öffnete seine Werkzeugkiste und brach hintereinander drei Bohrer bei dem Versuch ab, das Schloß herauszubohren. Er sagte kein Wort, aber er schüttelte ununterbrochen den Kopf, und der Ausdruck griesgrämiger Verärgerung auf seinem Gesicht wich mehr und mehr dem eines fast ehrfurchtsvollen Staunens. Bremer schien mit seiner Einschätzung, was die Qualität der Tür und des Schlosses anging, ziemlich richtig gelegen zu haben. Es dauerte gute zehn Minuten, bis er endlich aufgab und das tat, was Bremer ihm von Anfang an geraten hätte: nämlich das mitgebrachte Schweißgerät zu benutzen. Der Hausmeister begann lautstark zu lamentieren, bis Sendig ihn mit ein paar halblauten, aber sehr scharfen Worten zum Verstummen brachte, und rauschte beleidigt von dannen; vermutlich, um den Hausbesitzer aus dem Bett zu klingeln und ihm sein Leid zu klagen.

»Rufen Sie in der Zentrale an«, sagte Sendig, während sich die kleine blaue Acetylenflamme funkensprühend in den Stahl fraß. Das Teakholzfurnier verkohlte unter einer enormen Rauchentwicklung, so daß sie ein paar Schritte zurücktraten und der Schlosser zu husten begann. »Es sollte mich nicht wundern, wenn er eine Alarmanlage hat und Ihre Kollegen gleich hier auftauchen, um uns zu verhaften.« .

Bremer trat schuldbewußt einige Schritte weiter zurück und zog das Funkgerät aus der Tasche. Sendigs Worte waren frei von jedem Tadel gewesen, aber das änderte nichts daran, daß er auf diese Idee auch von selbst hätte kommen können; bei der augenscheinlichen Paranoia, unter der Löbach gelitten hatte, lag sie praktisch auf der Hand.

Er gab den Kollegen in der Funkleitzentrale Bescheid und trug ihnen gleichzeitig auf, Löbachs Namen durch den Computer laufen zu lassen - auch das zu spät, aber immerhin nicht so spät, daß Sendig ihn daran erinnern mußte. Sein Erlebnis von vorhin schien ihn doch mehr mitgenommen zu haben, als er selbst wahrhaben wollte. Normalerweise vergaß er solche Dinge nicht.

Der Schlosser schaltete sein Schweißgerät aus, als Bremer zu ihm zurückkam. Er hatte nur ein winziges Loch in die Tür gebrannt, gerade so groß wie Bremers Daumennagel, in dem er nun mit dem Draht von vorhin und einem an einen Zahnarztschaber erinnernden Werkzeug herumstocherte. Es verging noch eine geraume Weile, aber dann ertönte ein helles metallisches Klicken, und der Mann richtete sich triumphierend auf und hob die Hand, um die Tür aufzustoßen.

»Nicht!« sagte Sendig. »Treten Sie zurück.«

Der Schlosser wirkte mehr verwirrt als erschrocken, gehorchte aber sofort, und Sendig gab Bremer mit einem Kopfnicken zu verstehen, daß er dicht hinter ihm bleiben sollte. Clausens Kollege gesellte sich zu ihnen, hielt aber vorsichtshalber drei Schritte Abstand. Seine Hand lag auf dem Pistolengriff, und Bremer sah mit einem Gefühl leiser Besorgnis, daß er die Waffe bereits entsichert hatte.

Seltsamerweise konnte er das verstehen. Auch ihm ging es nicht sehr viel besser. Er war beunruhigt. Das hier war alles, nur kein normaler Selbstmord. Trotzdem deutete er ein Kopfschütteln in Richtung des Jungen an, von dem er hoffte, daß Sendig es nicht bemerkte, und registrierte erleichtert, wie der junge Kollege die Hand wieder zurückzog.

Sendig legte die Hand auf die Tür, riß sie hastig wieder zurück und zog ein Taschentuch aus dem Mantel, um sich vor der Hitze zu schützen, die das Metall offensichtlich gespeichert hatte. Mit einer schwerfälligen Bewegung, die ihr Gewicht verriet, schwang die Tür nach innen. Silbergraues Licht kroch ihnen entgegen. Sämtliche Lampen waren ausgeschaltet, aber die große Tür zu dem Balkon, von dem Löbach gesprungen war, stand weit offen, und auf der anderen Seite des Raumes glommen die roten und grünen Lichter einer Stereoanlage wie die leuchtenden Augen unheimlicher Insekten, die sie aus der Dunkelheit heraus anstarrten. Nach der hellen Neonbeleuchtung draußen auf dem Flur fiel es Bremer im ersten Moment schwer, mehr als Schatten zu erkennen, aber Sendig war nur einen Schritt hinter der Tür stehengeblieben und tastete bereits nach dem Lichtschalter. Es gab keinen Laut, aber unter der Decke glühten plötzlich gleich Dutzende winziger weißer Halogenscheinwerfer, und im nächsten Moment riß Bremer ungläubig die Augen auf.

»Großer Gott!« flüsterte Sendig.

4. Kapitel

Der Raum war dunkel und groß. Zwar brannte Licht - eine nicht zu schätzende Anzahl von Kerzen, die, einem asymmetrischen Muster folgend, im Zimmer verteilt waren -, aber etwas stimmte mit diesem Licht nicht. Es war da, aber es war nicht wirklich hell, als erreiche es die Oberfläche der Dinge nicht. Und es verwirrte eher, statt irgend etwas erkennen zu lassen, wie leuchtendes Wasser, das um dunkle Inseln herumfloß, ohne ihre Oberfläche zu benetzen. Was er sah, sah er nicht wirklich, sondern erriet es mehr, so daß er in einer Welt der Dinge war, die existieren konnten, nicht solcher, die tatsächlich waren: Gestalten - fünf, vielleicht sechs oder auch sieben, die im Kreis auf dem Boden saßen und sich an den Händen hielten, wobei sie den Oberkörper im Takt einer unhörbaren Melodie hin und her wiegten. Ihre Gesichter waren leere Flächen ohne Augen und Münder, die massiven Umrisse weniger, aber sehr schwerer Möbelstücke, deren Verteilung mit der der Kerzen korrespondierte und ebensowenig zu bestimmen war, und dazwischen etwas, das ein leuchtendes Kreuz hätte sein können, wäre es nicht zu groß gewesen und zugleich zu organisch.

Ein durchdringender Geruch hing in der Luft, und die Klarheit, die ihm seine Augen nicht liefern konnten, versuchten seine anderen Sinne durch übermäßige Schärfe zu kompensieren. Er spürte jede winzige Unebenheit des Bodens, auf dem er saß. Den leichten Luftzug auf der Haut, der durch das nur angelehnte Fenster hereinstrich. Die winzigen Falten, die seine Kleidung warf, und die Wärme der beiden Hände, die er berührte. Er war Teil des Kreises, und wie die anderen wiegte er den Oberkörper in regelmäßigen Bewegungen, hörte jedoch die lautlose Melodie nicht, deren Rhythmus er dabei folgte.

Das war falsch. Er war Teil dieses Kreises, zugleich aber auch wieder nicht, sondern ausgeschlossen. Und obwohl er noch nicht einmal wußte, weshalb, erfüllte ihn dieser Gedanke mit einem tiefen Bedauern. Er hatte etwas verloren, schlimmer noch, etwas war ihm genommen worden, und obwohl dies selbst für das Wissen um das galt, was es gewesen war, verspürte er einen tiefen Schmerz und zugleich Zorn darüber, denn immerhin wußte er noch, daß es etwas ungemein Großes, Wertvolles und Schönes gewesen war.