Das Licht flackerte. Im ersten Moment dachte er, ein Luftzug hätte die Kerzen berührt, aber die zahllosen winzigen Flämmchen bewegten sich nicht. Trotzdem war zu der Bewegung der Sitzenden eine andere hinzugekommen: die der Schatten, die zu wandern begannen. Er sah auf und erkannte, daß es das leuchtende Kreuz war, das sich auf ihn zubewegte. Es war nicht wirklich ein Kruzifix, sondern eine schlanke Mädchengestalt in einem schmucklosen weißen Kleid, das bisher mit ausgebreiteten Armen dagestanden hatte. Von seiner Gestalt ging tatsächlich ein mildes, goldfarbenes Licht aus, das noch weniger real war als das der Kerzen und seine Sinne noch mehr verwirrte, denn obwohl es nur wenige Meter entfernt dagestanden hatte und nun mit einem Schritt in den Kreis der sich Wiegenden hineintrat, konnte er das Gesicht unter dem glattenschwarzen Haar nicht erkennen. Aber er spürte den Blick ihrer Augen, der durchdringend auf ihm ruhte, und es war etwas darin, das ihn bis ins Mark erschütterte. Etwas, das heißer brannte als Zorn, das tiefer ging als Haß und das ihn am Grunde seiner Seele berührte und etwas in ihm zu Eis erstarren ließ. Ganz instinktiv spürte er, daß das Gesicht hinter diesem goldenen Schein unendlich schön sein mußte, aber daß ihn sein Anblick auch verbrennen würde, denn er war nicht für die Augen Sterblicher gedacht. Trotzdem hätte er sein Leben gegeben, nur einen einzigen Blick hinter diesen Vorhang ausleuchtendem Licht zu werfen.
Dann hörte er die Stimme. Sie war so überirdisch schön und irreal wie die Gestalt selbst, und wie schon zuvor bei ihrem Gesicht war etwas Substantielles von ihr nicht zu erkennen. Hätte er es gekonnt, wäre ihr Klang so tödlich gewesen wie der Anblick des Engelsgesichtes, und er hätte ebensoviel dafür gegeben, ihn ein einziges Mal wirklich zu hören. »Du hast uns verraten«, sagte sie. »Du hast mich verraten, obwohl ich dir mein Vertrauen und meine Liebe geschenkt habe. Sieh, was du getan hast.«
Eine leuchtende Hand hob sich und deutete auf die Gestalt zu seiner Rechten, und als sein Blick der Geste folgte, wurde der Traum endgültig zum Alptraum. Die Hand, die er hielt, war keine richtige Hand; das war sie vielleicht einmal gewesen, aber es mußte Jahre hersein. Jetzt war es eine mumifizierte Klaue, ein dürres Knochengerüst, über dem sich pergamenttrockene graue Haut spannte, die an zahllosen Stellen gerissen war, so daß es weiß hindurchschimmerte. Sie steckte in einem vermoderten braunen Jackenärmel, an dem sein Blick hinaufwanderte, bis er auf das traf, was einmal ein Gesicht gewesen war. Jetzt war es eine verwüstete, zerstörte Landschaft aus mumifiziertem Fleisch, vertrockneten grauen Hautfetzen und kratergleichen Wunden, an deren Grund eine Lava aus weißen Maden brodelte. Augen, Nase und Mund waren verschwunden und zu glitschigen Nistplätzen geworden, und eine gewaltige diagonale Schnittwunde spaltete dieses Horrorantlitz fast zur Gänze.
Er schrie auf und versuchte sich zurückzuwerfen, aber die Totenhand hielt seine Finger mit unerbittlicher Kraß umklammert. Verzweifelt riß und zerrte er, um den stahlharten Griff zu sprengen. Die morschen Knochen raschelten wie trockenes Holz, und graue Leichenhaut löste sich in pulverfeinen Staub auf, der an seiner Hand herablief und in seinen Ärmel rieselte; ein Gefühl, als krabbelten Millionen winziger Spinnen an seinem Unterarm entlang.
»Sieh nur, was du getan hast! Was du uns angetan hast!«
Er wollte es nicht. Er versuchte, sich mit aller Kraß dagegen zu wehren, aber sein Blick löste sich gegen seinen Willen von dem schrecklichen Totengesicht zur Rechten und fiel in das noch viel schlimmere auf der linken Seite. Es war nicht so grausam zerstört wie das andere, aber viel jünger, beinahe noch das eines Kindes, und vielleicht wirkten die Verheerungen darum um so schrecklicher. Es war ein Mädchen mit blondem, schulterlangem Haar, dessen seidiger Glanz einen gräßlichen Kontrast zu der aufgerissenen Totenhaut des Gesichts bildete, und großen Augen, in denen noch eine verblassende Erinnerung an das Leben geschrieben stand, das einst darin gewesen war. Aber auch noch mehr: ein stummer Vorwurf wie ein lautloser Schrei, vor dem er die Augen verschließen konnte, aber nicht die Ohren: Es ist deine Schuld. Wir haben dich geliebt, und das ist dein Dank!
»Sieh, was du getan hast! Sieh es dir an!«
Er schrie erneut und noch lauter und versuchte noch einmal, sich loszureißen. Doch der Griff der toten Hände war wie Stahl. So wie der Anblick des Gesichtes seinen Blick gefangenhielt, umklammerten die dürren Finger seine Hände, ganz gleich, wie verzweifelt er auch versuchte, sich loszureißen. Dann nahm er eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr, und irgend etwas daran durchbrach den Bann, der ihn bisher gezwungen hatte, die Zombiegesichter neben sich anzustarren. Ein Schatten beugte sich über ihn, und für einen winzigen Moment glaubte er das Gesicht hinter dem leuchtenden Schleier zu erkennen. Vielleicht auch nur etwas wie ein Gesicht, nicht mehr ganz menschlich, aber auch nicht ganz fremd, und eine Hand streckte sich nach ihm aus und berührte seine Schulter.
Ihr Griff war wie Feuer, das seinen Körper mit etwas tausendmal Schlimmerem wie Schmerz erfüllte, so daß er aufbrüllte und sich zurückwarf und sofort...
... erwachte. Sein Herz jagte wie ein zuckender roter Gummiball in seiner Brust. Mark wußte sofort und mit unerbittlicher Sicherheit, daß er geträumt hatte, aber seltsamerweise half ihm dieses Wissen kein bißchen, die Furcht zu überwinden, die ihn noch immer erfüllte. Sie war und blieb noch in ihm wie ein pulsierender Embryo, den eine Schlupfwespe aus dem Land der Nachtmahre in ihm abgelegt hatte.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?«
Marks Blick klärte sich nur langsam. Er konnte sehen, aber es fiel ihm schwer, den Bildern die richtige Bedeutung zuzuordnen. Vor ihm war noch immer ein Gesicht, und auf seiner Schulter lag noch immer eine Hand, die ihn wohl auch wachgerüttelt hatte, aber sie gehörten nicht mehr zu dem Todesengel, sondern einer vielleicht fünfzigjährigen dunkelhaarigen Frau, die besorgt auf ihn herabblickte und ihre Frage wiederholte, vielleicht nicht zum ersten Mal.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?«
Mark schüttelte benommen den Kopf. »Es ist nichts«, murmelte er. »Ich hatte einen Alptraum... glaube ich.«
»Sie haben geschrien.« Die Frau nickte. Dann machte sich plötzlich Verlegenheit auf ihrem Gesicht breit, und sie richtete sich hastig auf und nahm endlich die Hand von seiner Schulter. Mark atmete erleichtert auf. Diese Berührung war leicht wie die einer Feder gewesen, aber sie erinnerte ihn an die des Todesengels aus seinem Traum, und das allein war beinahe mehr, als er ertragen konnte.
Offenbar sah man ihm seine Erleichterung auch deutlich an, denn die Verlegenheit im Gesicht der Frau nahm noch weiter zu. Mit einer nervösen Bewegung ließ sie sich wieder auf den Sitz auf der anderen Seite des Abteils sinken, von dem sie aufgestanden war, um ihn zu wecken. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich wollte nicht -«
»Das ist schon in Ordnung«, unterbrach sie Mark. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Es war ein Alptraum. Völlig verrückt, schlimm. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich geweckt haben.«
Das hörte sich ungefähr so überzeugend an, wie sein Lächeln aussehen mußte, aber vermutlich hätte alles, was er jetzt sagen konnte, die Situation nur noch peinlicher gemacht. In diesem Moment jedoch wurde die Abteiltür geöffnet, und ein zugleich übermüdet wie alarmiert aussehender Schaffner mit Ringen unter den Augen und einer schlechtsitzenden Uniform blickte zu ihnen herein. Irgend etwas an ihm war ungewöhnlich, aber Mark konnte nicht sagen, was es war.