»Alles in Ordnung?« fragte er. Obwohl er sehr müde aussah, klang seine Stimme mißtrauisch, und sein Blick war sehr wach. Und jetzt wußte Mark auch, was an ihm nicht stimmte: Seine Hände waren leer. Die abgewetzte, immer zu kleine und meistens mit einem Einmachgummi zusammengehaltene Ledermappe mit Fahrplänen, Formularen, Fahrkartenblocks und Quittungen, die fester Bestandteil jedes Eisenbahnschaffners war, fehlte bei diesem Mann. Er war nicht auf seiner normalen Runde, sondern einzig und allein hergekommen, weil er etwas gehört hatte.
»Es ist schon gut«, sagte Mark hastig. »Ich hatte einen Alptraum. Es tut mir leid.«
Der Schaffner blickte weiter mißtrauisch auf ihn herab. Das war nicht die Antwort, die er erwartet hatte, und wahrscheinlich auch keine, die er wirklich glaubte. Er wandte sich mit einem fragenden Blick an die Frau auf der anderen Seite des Fensters.
»Es ist wirklich alles in Ordnung«, sagte sie. »Er hat schlecht geträumt. So etwas kommt vor.«
»Ja, das kommt es wohl.« Der mißtrauische Glanz in den Augen des Schaffners blieb. Er zögerte ein bißchen zu lange, dann trat er rückwärts wieder aus dem Abteil heraus und machte eine Kopfbewegung nach rechts. »Ich gehe dann wieder. Ich bin im Dienstabteil, zwei Türen weiter - falls Sie noch irgend etwas benötigen.«
»Vielen Dank.« Mark wartete, bis der Mann die Tür zugeschoben hatte und sie wieder allein im Abteil waren, dann wandte er sich mit einem dieses Mal echt wirkenden Lächeln wieder an sein Gegenüber. »Jetzt haben Sie mich zum zweiten Mal gerettet, glaube ich. Wahrscheinlich zerbricht er sich den Rest der Nacht den Kopf über die Frage, ob ich bekifft bin oder Sie belästigen wollte.«
»Sie waren wirklich ziemlich laut«, sagte die Frau. »War es so schlimm?«
»Keine Ahnung«, log Mark. »Ich erinnere mich nicht. Nur, daß es ein Alptraum war.«
»Das sind manchmal die schlimmsten. Man erinnert sich nämlich doch, wissen Sie... Man will es nur nicht wissen.«
Damit kam sie der Wahrheit näher, als sie wahrscheinlich selbst ahnte. Mark fragte sich einen Moment lang, warum er eigentlich gelogen hatte - er erinnerte sich an jede noch so winzige Kleinigkeit dieses verdammten Traumes, aber er wußte die Antwort auch im gleichen Augenblick selbst. Obwohl scheinbar völlig sinnlos, war der Traum viel zu intim gewesen, um darüber zu reden - noch dazu mit einem vollkommen fremden Menschen. Und dazu kam noch etwas: Auch wenn sein Herz aufgehört hatte zu rasen und seine Hände nicht mehr zitterten, war die Angst noch da. Über den Traum zu reden könnte bedeuten, den Embryo zu wecken.
»War sie Ihre Freundin?«
Mark schrak nicht nur aus seinen Gedanken hoch, sondern begriff auch voll plötzlichem Schrecken, daß sie ihn nun tatsächlich zum zweiten Mal gerettet hatte, denn er war nahe daran gewesen, erneut in die furchtbare Vision abzugleiten. Schon die Erinnerungen daran waren wie Fallstricke, zwischen denen bodenlose Abgründe lauerten. »Wer?«
»Azrael«, antwortete die Frau. »Sie haben ein paarmal ihren Namen gerufen.«
Mark kramte in seinem Gedächtnis. Azrael? Im ersten Moment sagte ihm dieser Name - wenn es ein Name war - nichts. Aber dann schien doch etwas Vertrautes an diesem Begriff zu sein. Er grub tiefer in seinem Gedächtnis - und prallte so entsetzt zurück, als hätten seine tastenden Hände eine glühende Herdplatte berührt. Da war etwas... etwas Weißglühendes, Scheußliches, das wie eine Spinne im Zentrum ihres unsichtbaren Netzes hockte und darauf wartete, daß er einen der klebrigen Fäden berührte.
»Nein«, sagte er. »Ich glaube nicht.«
Der Schrecken ließ seine Stimme aggressiv klingen, das spürte er selbst. Dabei war das letzte, was er wollte, unhöflich oder gar grob zu sein. Er hatte seine zufällige Reisebegleiterin ohnehin schon in eine peinlichere Situation gebracht, als ihm lieb war.
»Entschuldigung«, sagte er noch einmal.
»Sie müssen sich nicht ununterbrochen entschuldigen, junger Mann«, antwortete sie. »Es ist nichts Schlimmes daran, Gefühle zu haben.«
Mark schwieg, aber er betrachtete sie jetzt das erste Mal genauer. Die Frau war nicht so alt, wie er im ersten Moment angenommen hatte - allerhöchstens vierzig -, aber ihr Gesicht und vor allem ihre Augen hatten etwas Mütterliches, das sie älter erscheinen ließ, und Mark begann sich zu fragen, ob es vielleicht nicht doch ein Fehler gewesen war, höflich sein zu wollen. Übertriebene Beschützerinstinkte und - wenn auch unbeabsichtigte - Aufdringlichkeit gingen meistens Hand in Hand. Er brauchte jetzt niemanden, der in seinem Seelenleben herumkramte. Aber er hatte mittlerweile auch lange genug geschwiegen, um das Gespräch endgültig zu unterbrechen. Und wieder breitete sich Peinlichkeit zwischen ihnen aus. Als sie diesmal übermächtig zu werden drohte, stand die Frau auf und nahm einen kleinen Handkoffer von der Gepäckablage. »Es wird Zeit«, sagte sie. »Ich muß an der nächsten Station raus.«
Das stimmte nicht. Bis zum nächsten Bahnhof war es noch eine gute halbe Stunde, wie Mark mit einem unauffälligen Blick auf die Uhr feststellte. Sie wollte einfach raus aus diesem Abteil und vor allem aus der Nähe dieses unheimlichen Burschen, der im Schlaf schrie und im übrigen wohl auch alles andere als vertrauenerweckend aussah. Marks letzter Friseurbesuch war ein Jahr her. Er trug einen viel zu großen grünen Parka mit einem Motörhead-Aufnäher auf dem rechten Ärmel, abgewetzte blaue Jeans und feste Schuhe, die bei flüchtigem Hinsehen und mit andersfarbigen Schnürsenkeln durchaus als Rep-Knobelbecher durchgegangen wären. Dieses Outfit symbolisierte keineswegs irgendeine Weltanschauung, sondern trug nur seiner ursprünglichen Planung Rechnung, zu Fuß zum Bahnhof zu gehen. Aber er konnte sich gut vorstellen, welchen Eindruck es zusammen mit seinem übermüdeten Gesicht und seinem seltsamen Benehmen machte.
Um ein Haar hätte er sie gebeten, zu bleiben, denn plötzlich hatte er fast panische Angst davor, allein zu sein. Er könnte wieder einschlafen, und dann würde vielleicht der Traum zurückkommen, und diesmal wäre niemand da, um ihn zu wecken. Mark war sogar ziemlich sicher, daß sie geblieben wäre, hätte er sie darum gebeten. Aber er hatte nicht den Mut dazu, und so blieb er nur wortlos sitzen und verabschiedete sich mit einem ebenso stummen Nicken, als sie das Abteil verließ.
Mark verfluchte sich in Gedanken für seine Feigheit. Vielleicht hatte Prein ja recht, und er war tatsächlich ein Feigling, zumindest aber nicht besonders klug. Er sah auf die Uhr. Fast halb drei. Seit nicht ganz zweieinhalb Stunden war er nun also volljährig, aber er begann sich zu fragen, ob er damit auch tatsächlich schlagartig erwachsen geworden war, und wenn, warum er sich dann eigentlich nicht so benahm. Pünktlich auf die Minute mit Überschreitung der magischen Achtzehn-Jahres-Grenze alle Brücken hinter sich abzubrechen und blindlings davonzustürmen war wohl eher ein Zeichen von kindlichem Trotz, nicht von Reife.
Der Zug bewegte sich schnell und beinahe lautlos durch die Nacht. Sie mußten über flaches Land fahren oder zumindest durch eine sehr dünn besiedelte Gegend, denn er sah draußen kein einziges Licht. Dazu kam, daß es noch immer regnete und schwere Wolken den Himmel bedeckten; der Intercity hätte ebensogut durch einen endlos langen, unbeleuchteten Tunnel fahren können. Und in gewisser Weise tat er das ja auch, nur daß er nicht die geringste Ahnung hatte, was ihn am Ende dieses Tunnels erwarten mochte. Er wußte, woher er kam - aus einem Leben, das er gehaßt hatte, zumindest während der letzten sechs Jahre, und das jeden Tag ein kleines bißchen mehr -, aber er wußte nicht, wohin er ging. Wenn er ehrlich zu sich selbst gewesen wäre, hätte er sich eingestanden, daß er nicht einmal wußte, wohin er gehen wollte.
Er sah wieder auf die Uhr. Seit er es das letzte Mal getan hatte, schien keine meßbare Zeit vergangen zu sein, und vor ihm lagen noch viele Stunden, angefüllt mit endlosen Minuten, von denen jede einzelne sich zu einer kleinen Ewigkeit dehnen würde, ehe der Zug Berlin erreichte. Er hatte Angst, wieder einzuschlafen, und so verließ er das Abteil und ging in den Speisewagen, um einen Kaffee zu trinken. Er mochte eigentlich keinen Kaffee, aber er brauchte jetzt etwas, um wach zu bleiben.