Mark war der einzige Gast des Zugrestaurants. Es war nach zwei, selbst für einen Intercity auf der Nachtroute eine stille Zeit, in der die meisten Fahrgäste schliefen oder dem Morgen entgegendösten. Ein verschlafen aussehender Kellner brachte ihm das bestellte Kännchen Kaffee und bestand darauf, sofort zu kassieren - Parka und Knobelbecher waren offenbar auch nicht dazu angetan, seine Kreditwürdigkeit zu heben.
Während Mark die bitter schmeckende, heiße Flüssigkeit in kleinen Schlucken herunterwürgte und darauf wartete, daß die belebende Wirkung einsetzte, versuchte er sich über die Bedeutung seines seltsamen Traumes klar zu werden. Wahrscheinlich war es wirklich nicht mehr als ein Traum gewesen, ohne irgendeine tiefere Bedeutung. Alpträume kamen eben manchmal. Und trotzdem... Etwas an diesen Bildern war so ... realistisch gewesen. Hinter dem Wahnsinn hatte eine Wahrheit gelauert, die hinauswollte und die sich vielleicht nur hinter apokalyptischen Visionen tarnte, weil ihr wirkliches Antlitz noch viel schrecklicher war.
Er trank einen weiteren Schluck Kaffee, verzog angewidert das Gesicht und schenkte sich gleichzeitig nach. Die belebende Wirkung, auf die er so hoffte, ließ noch immer auf sich warten, dafür schmeckte das Gebräu jetzt, nachdem es abzukühlen begann, um so scheußlicher. Er fragte sich, warum so viele so versessen auf dieses Zeug waren. Es schmeckte nicht, war ungesund, und die versprochene Wirkung blieb es auch noch schuldig.
Dafür begann ihn das regelmäßige Schaukeln des Zuges und das Geräusch der rollenden Räder schon wieder einzulullen. Um der Müdigkeit entgegenzuwirken, rutschte er absichtlich in eine unbequemere Stellung und richtete sich auf. Sein Blick glitt haltlos durch den langen, schmalen Raum, aber es gab nichts, was interessant genug gewesen wäre, ihn wachzuhalten. Der Kellner, der ihn bedient harte, lehnte mit verschränkten Armen an der Theke, rauchte und warf dann und wann einen gelangweilten Blick in seine Richtung. Mark hatte bisher angenommen, daß er ihn als willkommene Abwechslung in der toten Zeit zwischen zwei und vier betrachtete, aber augenscheinlich war es genau umgekehrt: Er hatte diese Stunden wohl als zusätzliche Pause fest einkalkuliert und ärgerte sich jetzt, wegen eines Gastes und eines Trinkgeldes von deutlich unter einer Mark wach bleiben zu müssen.
Marks Blick wanderte weiter über das knappe Dutzend Tische, die den schmalen Gang flankierten. Ihre Gleichförmigkeit hatte etwas Bedrückendes. Er wünschte sich, es wäre eine Stunde später oder er säße wenigstens nicht so allein im Zugrestaurant. Um sich die Zeit zu vertreiben, versuchte er die Plätze an den Tischen ringsum in Gedanken mit Menschen anzufüllen, aber er gab diesen Versuch fast sofort wieder auf: Die Phantome, die er erschuf, hatten eine unangenehme Tendenz, tote Gesichter mit leeren Augenhöhlen zu haben.
Er sah nach rechts, aber auch die vorübergleitende nächtliche Landschaft bot keine Abwechslung. In einiger Entfernung schwebte eine Autobahn vorbei, in unregelmäßigen Abständen gesprenkelt mit weißen und roten Lichterpaaren, die vollkommen stillzustehen schienen. Er war schrecklich müde, und es war, als hätte sich nun die ganze Welt verschworen, um ihm zu beweisen, daß er sich wirklich am tiefsten Punkt der Nacht befand - einer Stunde, die dem Schlaf gehörte und den Träumen mit ihren Bewohnern.
Irgend etwas bewegte sich draußen vor dem Fenster. Wahrscheinlich war es nur ein Lichtreflex auf einem Blatt oder eine Stromleitung, an der der Zug vorüberraste, aber er hielt trotzdem aufmerksam danach Ausschau, konnte er auf diese Weise doch der Nacht einige weitere Augenblicke abtrotzen. Und er wurde belohnt. Nach einem Moment sah er es wieder, und diesmal sah es nicht aus wie ein Lichtreflex, sondern seidig und wehend, wie ein weißes Kleid, das sich im Wind bewegte und dabei nicht nur mit dem rasenden Tempo des Zuges mithielt, der mit annähernd zweihundert Stundenkilometern durch die Nacht schoß, sondern im Gegenteil allmählich näher zu kommen begann. Hinter ihm und rechts und links von ihm glommen plötzlich zahllose winzige Funken in der Dunkelheit auf. Hunderte von ruhig brennenden gelben Kerzen, die ovale Höfe von mildem Licht um sich verbreiteten.
Es war ein Kleid. Die Kerzen waren real und die Schatten davor die eines Dutzends im Kreis sitzender Gestalten, die sich an den Händen ergriffen hatten und im Takt einer unhörbaren Musik wiegten. Mark prallte entsetzt zurück und stieß gegen seine Tasse. Sie fiel um und tränkte die Tischdecke mit dem Rest Kaffee, der noch darin gewesen war, aber das registrierte er ebensowenig wie das Stirnrunzeln des verärgerten Kellners. Sein Blick irrte immer unsteter über die leeren Tische auf der anderen Seite des Ganges. Er war noch immer der einzige Gast. Außer ihm und dem Ober war niemand hier, und trotzdem sah er jetzt ganz deutlich das Spiegelbild von fünf, sechs, sieben Personen in der schwarzen Scheibe. Ein Spiegelbild ohne Original, das nicht sein konnte und trotzdem immer realer wurde, bis die Wirklichkeit verblaßte und der Traum ihre Stelle einnahm. Die Fensterscheibe war jetzt kein Spiegel mehr, sondern ein Tor in eine andere, verbotene Welt, deren Abgesandte sich auf dem Weg zu ihm befanden.
»Na, was ist denn da los? Haben wir Probleme?«
Wenn dies ein Traum war, wie konnte er dann die Stimme des Kellners hören? Aber er konnte nicht darauf reagieren. Gelähmt vor Schrecken, starrte er die Gestalt in dem weißen Kleid an, die Gestalt ohne Gesicht, die den Kreis betreten hatte und langsam näher kam. Ihre Füße berührten den Boden nicht, aber ihre Hände waren nach ihm ausgestreckt. Es waren schlanke, sehr schmale Hände. Die Hände eines Mädchens oder einer jungen Frau, die so zerbrechlich wie Puppenglieder wirkten und von denen er trotzdem wußte, welch enorme Kraft sie hatten. Eine tödliche, mörderische Kraft, die nur auf ein einziges Ziel gerichtet war.
»He, Freundchen - was ist los mit dir?«
Er hörte, wie der Kellner näher kam. Seine Stimme klang jetzt ziemlich verärgert, und Mark flehte, daß er es auch wirklich war, daß er sich beeilte und ihn erreichte, ehe sie es tat, ehe diese schrecklichen Hände ihn berühren konnten. Die Gestalt ohne Gesicht war jetzt ganz nah, nur noch durch das Glas der Fensterscheibe von ihm getrennt, ihre Hände näherten sich ihm, berührten das Glas und glitten hindurch, ohne daß es einen sichtbaren Widerstand gab, tauchten hinein wie in transparentes Quecksilber, kleine, runde, sich kreuzende Wellenkreise erzeugend, doch was auf seiner Seite wieder aus dem Glas auftauchte, das waren keine weißen Porzellanfinger mehr, sondern schuppige Teufelsklauen. Grobe Pranken mit einer Haut aus grünem Stahl und Krallen, die wie gezackte Rasierklingen blitzten und sich gierig nach seiner Kehle ausstreckten ...
Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter, und die Berührung ließ die Illusion zerplatzen. Und das im wortwörtlichen Sinne: Das Bild auf dem Glas vor ihm zerbrach in Tausende von Splittern, die lautlos in alle Richtungen davonflogen. Die tödlichen Krallen zerbarsten und lösten sich auf. Das Fenster war wieder ein Fenster, hinter dem die nächtliche Landschaft vorüberrollte.
Mark sah hoch und blickte in ein breitflächiges, müdes Gesicht, dessen Augen vor kaum noch verhohlener Wut funkelten. Aber nur für einen Sekundenbruchteil. Was immer der Kellner in seinem Gesicht sah, es ließ aus dem Ärger in seinem Blick Erschrecken und gleich darauf Bestürzung werden. Hastig nahm er die Hand von Marks Schulter.
»Ist alles in Ordnung?« fragte er.
Mark hätte ihn vor Erleichterung umarmen können. Sein Herz hämmerte, er zitterte am ganzen Leib und spürte erst jetzt, daß ihm lauwarmer Kaffee auf den Schoß tropfte, und trotzdem fühlte er sich so erleichtert wie niemals zuvor. Es war nur ein Traum gewesen, aber Mark war nicht sicher, ob es auch so geblieben wäre, hätten diese furchtbaren Hände ihn berührt.