»Schon gut«, sagte er. »Ich war... ein bißchen ungeschickt. Tut mir leid wegen der Decke.« Irgend etwas kratzte an der Scheibe hinter ihm, wahrscheinlich nur ein Regentropfen, aber vielleicht auch stahlharte Fingernägel, die über das Glas scharrten. Mark wagte es nicht, hinter sich zu blicken, aber er sah aufmerksam ins Gesicht des Kellners und suchte nach einer Spur von Erschrecken, einem Stirnrunzeln, irgendeinem Hinweis darauf, daß auch er da draußen irgend etwas Ungewöhnliches entdeckt hatte. Nichts...
»Fühlen Sie sich nicht wohl? Sie sehen krank aus.«
Von Freundchen waren sie nun wieder beim höflichen Sie angelangt - immerhin eine gewisse Verbesserung, dachte Mark. Er schüttelte ein wenig zu heftig den Kopf, um überzeugend zu wirken, und zuckte praktisch in der gleichen Bewegung mit den Schultern. »Nicht besonders«, gestand er. »Ich bin ein bißchen übermüdet, schätze ich.«
»Dann sollten Sie ein paar Stunden schlafen«, sagte der Kellner. Er begann mit seinem Handtuch die Kaffeepfütze wegzutupfen, die sich auf der Tischdecke vor Mark gebildet hatte, und stellte gleichzeitig die Tasse wieder auf. »Fahren Sie durch bis zum Ende?«
»Bis Berlin, ja.«
»Suchen Sie sich ein freies Abteil und legen Sie sich lang«, fuhr der Kellner fort. »Sind genug da. Der Zug ist fast leer. Und wenn Sie verschlafen, dann weckt Sie ja spätestens die Putzkolonne wieder auf.«
Vermutlich war das scherzhaft gemeint, aber Mark war nicht nach Lachen zumute. Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht schlafen. Lieber hätte ich noch einen Kaffee, um wach zu bleiben.«
»Dann lieber einen Mokka, würde ich vorschlagen, einen doppelten. Ist noch ein weiter Weg bis Berlin.«
»Das fürchte ich auch«, murmelte Mark. Er hob den Arm und streifte den Ärmel des Parkas zurück, wobei er es sorgsam vermied, auch nur in die ungefähre Richtung des Fensters zu blicken. Es war noch nicht einmal eine halbe Stunde vergangen. Die Uhrzeiger schienen festgeklebt zu sein, und vor ihm lagen noch eine Menge halber Stunden.
»Azrael...« murmelte er.
5. Kapitel
Die Wohnung war ein Alptraum. Die vorherrschende Farbe war Schwarz - angefangen von den Jalousien vor den Fenstern über den Teppichboden, die Wände, Türrahmen und das spärliche Mobiliar. Bis hin zur Decke hatte sich jemand große Mühe gegeben, jede Farbe aus diesem Raum zu löschen. Es gab nur sehr wenige Möbeclass="underline" ein einfaches, natürlich schwarzgestrichenes Holzregal, das eine Stereoanlage und einen Fernseher enthielt, einen Couchtisch und ein paar Stühle und anstelle eines Bettes einen großformatigen - schwarzen - Futon. Das fast vollständige Fehlen einer Einrichtung bedeutete jedoch nicht, daß die Wohnung leer war. Ganz im Gegenteil herrschte in dem großen Apartment ein unbeschreibliches Durcheinander. Auf dem Fußboden lag eine fast wadenhohe Schicht aus Kleidungsstücken, Büchern, Papierfetzen, Plastiktüten, aufgerissenen Kartons und Kissen, Hunderten von leeren Zigarettenschachteln und Zeitschriften, vollen Aschenbechern und Bierdosen, McDonalds-Kartons, Kerzenstummeln und Prospekten ... Eine Müllkippe war nichts dagegen. Trotz der offenstehenden Balkontür stank es erbärmlich. Bremer mußte immer schneller schlucken, um den schon wieder aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken. Was hatte er dem Schicksal eigentlich angetan, daß es ihm heute so übel mitspielte?
»Mein Gott«, murmelte er. »Das ist ja unvorstellbar. Wie kann ein Mensch so leben?«
Er trat einen weiteren Schritt hinter Sendig in den Raum hinein und stieß dabei mit dem Fuß gegen eine Papiertüte, die umfiel und ihren Inhalt über den Boden verteilte: ein halbes Dutzend leerer Bierdosen und Plastikschälchen mit Essensresten, die schon Schimmel angesetzt hatten. Bremer verzog angeekelt das Gesicht. Wahrscheinlich wimmelte es hier von Ungeziefer und Krankheitserregern. Der Gestank war so schlimm, daß er eigentlich noch drei Etagen tiefer zu spüren sein mußte. Es war ihm ein Rätsel, daß sich die anderen Mieter des Hauses nicht längst darüber beschwert harten.
»Rühren Sie nichts an«, sagte Sendig. »Rufen Sie das Präsidium. Die Spurensicherung soll herkommen. Und schließen Sie die Tür«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu. »Das hier muß niemand sehen.«
Dazu war es ein bißchen zu spät. Unter der Tür standen mittlerweile nicht nur der rothaarige Polizist und der Schlosser und starrten aus ungläubig aufgerissenen Augen zu ihnen herein, auch Schraiber mit ›ai‹ war zurückgekehrt, und er sah aus, als träfe ihn jeden Moment der Schlag.
»Aber das... das... das ist ja unfaßbar«, stammelte er. »Eine solche Schweinerei hab' ich ja noch nie gesehen! Das... das muß ich sofort der Hausverwaltung melden!«
»Tun Sie das«, sagte Sendig. »Am besten von einem Münzfernsprecher am Hauptbahnhof aus.« Er wiederholte seine Aufforderung, die Tür zu schließen, mit einer ungeduldigen Geste und schüttelte den Kopf, als Bremer ihr endlich nachkam.
»Idiot«, murmelte Sendig. Er war in der Mitte des überraschend großen Raumes stehengeblieben und sah sich noch immer unentwegt kopfschüttelnd um. Er sagte nichts mehr, aber es fiel ihm offenbar ebenso schwer wie Bremer, wirklich zu glauben, was er sah.
Bremer erinnerte sich endlich an den Rest des Befehles, den Sendig ihm erteilt hatte, und hatte es plötzlich sehr eilig, sein Funkgerät einzuschalten und die Zentrale anzurufen. Während er es tat, bewegte sich Sendig raschelnd durch den Raum und verschwand hinter einer der beiden anderen Türen, die es gab. Bremer erledigte seinen Anruf und folgte ihm. Es war nicht unbedingt so, daß er Sendigs Gesellschaft übermäßig schätzte - aber allein in dieser unheimlichen Wohnung zu bleiben, gefiel ihm noch sehr viel weniger.
Die Tür führte in ein großzügig bemessenes Bad, das neben Toilette und Badewanne eine zusätzliche Duschkabine und ein Bidet enthielt. Und alles war mit einer dicken Schicht schwarzer Ölfarbe überzogen. Auf den glasierten Fliesen und dem Porzellan haftete die Farbe nicht gut, weshalb Löbach mehrere Schichten übereinander aufgetragen hatte, bis sie so rauh und uneben wie glänzender Teer geworden waren. Es gab sogar ein Fenster, das Bremer aber erst beim zweiten Hinsehen überhaupt bemerkte. Scheibe und Rahmen waren so dick mit schwarzer Farbe bekleistert, daß sie mit der Wand zu verschmelzen schienen. Es war auch nicht sehr hell. In den Deckenpaneelen befanden sich die gleichen, einen Sternenhimmel simulierenden Halogenlämpchen wie im Wohnzimmer, aber die meisten Birnen waren herausgezogen, so daß der Raum nur aus einem Konglomerat schwarzer Schatten mit verschwimmenden Kanten bestand.
»Unheimlich«, murmelte Sendig. »Ich frage mich, was in einem solchen Menschen vorgehen muß.«
Er machte einen weiteren Schritt in den Raum hinein, und die Dunkelheit und das allgegenwärtige Schwarz verliehen der Bewegung eine sonderbare Tiefe. Es war, dachte Bremer, als mache er zugleich einen Schritt in eine bizarre, fehlfarbene Welt mit verschobenen Dimensionen.
»Wahrscheinlich werden wir das nie erfahren.« Sendig beantwortete seine Frage selbst, als Bremer es nicht tat. »Aber vielleicht muß man den Verstand verlieren, in einer solchen Umgebung.«
»Er hat sich selbst so eingerichtet«, gab Bremer zu bedenken.
»Ja, das hat er wohl.« Sendig drehte sich einmal um seine Achse und trat schließlich an den Spiegelschrank über dem Waschbecken heran. Löbach hatte sämtliche Plastikteile und zwei der drei Türen geschwärzt; nur ungefähr ein Drittel des mittleren Spiegels war seiner Malwut entgangen. Sendig betrachtete ihn einen Moment nachdenklich, dann hob er die Hand und öffnete den Schrank, wobei er nur den Nagel des kleinen Fingers benutzte. Vorsichtig, dachte Bremer, aber ziemlich überflüssig. Welchen Beweis brauchte er nach dem Anblick dieser Wohnung eigentlich noch, daß Löbach einen Riß in der Schüssel gehabt hatte, der so breit war wie der Grand Canyon?