»Wahrscheinlich. Und er war sogar ordentlich genug, das Messer wieder zurückzulegen, ehe er hinausgegangen ist, um sich vom Balkon zu stürzen.« Sendig zog eine Grimasse. »Völlig verrückt. Das ist wohl eher ein Fall für die Psychiater als für uns.«
Und was tust du dann hier? dachte Bremer. Er hütete sich, das laut auszusprechen, aber es mußte entweder deutlich in seinem Gesicht geschrieben stehen, oder Sendig hatte begriffen, welche Frage er mit seinen Worten implizierte, denn er fuhr nach einem kurzen Moment unaufgefordert fort: »Ich kannte Löbach, wissen Sie. Ich hatte schon einmal mit ihm zu tun, wenn auch nur indirekt. Sie übrigens auch.«
»Ich?«
Sendig nickte. »Sillmann«, sagte er. »Na, klingelt's jetzt? Die Geschichte vor sechs Jahren, in die er verwickelt war. Erinnern Sie sich?«
Ob er sich erinnerte? dachte Bremer. Sollte das ein Witz sein? Niemand, der auch nur am Rande mit dieser Geschichte, wie Sendig es genannt hatte, in Berührung gekommen war, würde sie jemals wieder vergessen. Es hatte ein paar Tote zuviel gegeben, und ein paar Antworten zuwenig. Außerdem hatte er damals Sendig kennengelernt.
»Ich erinnere mich«, sagte er. »Aber was -«
»Löbach arbeitet als Chemiker für die Sillmann-Werke«, fiel ihm Sendig ins Wort. »Wenigstens hat er das getan. Wenn ich mich allerdings hier so umsehe, frage ich mich, ob er überhaupt noch irgendwo arbeitete.«
»Die Leute hier im Haus sagen, daß er viel auf Reisen gewesen ist und offenbar Geld hatte.« Bremer warf einen übertrieben stirnrunzelnden Blick in die Runde. »Auch wenn es hier nicht so aussieht.«
»Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, sagte Sendig. »Ich kenne die Gegend hier. Dieses Apartment dürfte im Monat mehr Miete kosten, als Sie verdienen.«
»Kein Wunder, daß nichts mehr für eine Putzfrau übrigblieb.«
Sendig lachte, aber es wirkte nicht besonders amüsiert. Vielleicht lag das auch an ihrer Umgebung. Löbach hatte sich mit Erfolg Mühe gegeben, diese Wohnung in einen Ort zu verwandeln, an dem jede Äußerung menschlichen Lebens - und ein Lachen vor allem - deplaciert wirkte. Der Laut durchbrach die Dunkelheit nicht, die sie umgab, sondern schien sie im Gegenteil zu betonen, und er ließ etwas wie einen schlechten Nachgeschmack zurück.
Sendig räusperte sich gekünstelt und wandte sich wieder der verschmierten Schrift an der Wand zu. »Azrael«, murmelte er zum dritten Mal. »Wenn ich nur wüßte, woher ich dieses Wort kenne. Er hat es sich in die Brust geritzt, sagen Sie?«
Konkret gesagt hatte Bremer das nicht, aber es war vielleicht nicht der passende Moment für Haarspaltereien. »Es sah so ähnlich aus«, sagte er vorsichtig. »Aber ehrlich gesagt, habe ich nicht sehr genau hingesehen. Er bot... keinen besonders schönen Anblick.«
»Es ist ein ziemlich langer Sturz nach unten.« Sendig war an diesem Abend ungewöhnlich versöhnlicher Stimmung; normalerweise wäre Bremers Eingeständnis ein guter Grund für einen Verweis gewesen und einen Vortrag darüber, daß Polizeibeamte keine Rücksicht auf ihre persönlichen Gefühle zu nehmen hatten und sie gefälligst bei Dienstantritt zusammen mit ihrer Zivilkleidung in den Spind hängen sollten. Aber vermutlich ließ etwas wie das hier nicht einmal ihn vollständig kalt. Wahrscheinlich ging Bremer auch mit sich selbst zu hart ins Gericht. Er hätte wohl eher Anlaß gehabt, sich Sorgen zu machen, wenn er bei diesem Anblick nicht ins Schleudern gekommen wäre.
Sendig zog plötzlich mit einem übertriebenen Schnüffeln die Luft durch die Nase ein, und als reiche ihm diese Imitation eines witternden Polizeihundes noch nicht, legte er auch noch den Kopf schräg. »Wonach riecht es hier eigentlich?« fragte er.
Nach Müll, dachte Bremer. Aber das war es nicht, was Sendig gemeint hatte. Er hatte Bremer mit seiner Frage erst darauf aufmerksam machen müssen, aber nun, als er es einmal getan hatte, fiel es auch ihm auf: Unter dem süßlichen Abfallgeruch war noch etwas, ein Aroma, das längst nicht so aufdringlich und nicht einmal annähernd so stark wie der Verwesungsgestank war, trotzdem aber irgendwie seinen Platz behauptete. Und das er nicht nur kannte, sondern jetzt endlich auch erkannte.
»Marzipan!« Sendig sprach es eine halbe Sekunde schneller aus, als Bremer es tun konnte. »Es riecht nach Marzipan.«
Bremer konnte nur wortlos nicken und die Lippen aufeinanderpressen. In Verbindung mit dem Müllkippengeruch, der die Wohnung erfüllte, war allein der Gedanke an etwas Eßbares ekelhaft.
Was aber nichts daran änderte, daß Sendig recht hatte - es war Marzipangeruch, der jetzt, wo sie ihn einmal identifiziert hatten, mit jedem Moment stärker zu werden schien. Und da war noch etwas: Bremer erkannte den Marzipangeruch jetzt nicht nur wieder, weil es Marzipangeruch war und man Marzipangeruch eben kannte - er hatte ihn vor ein paar Minuten erst in fast gleicher Intensität wahrgenommen und nur nicht richtig einordnen können. Unten, auf der Straße.
»Löbach!« sagte er.
Sendig starrte ihn an. »Löbach?«
»Er hat ganz genauso gerochen«, antwortete Bremer. »Ich habe es nicht erkannt, aber jetzt... Er hat so sehr nach dem Zeug gestunken, als hätte er darin gebadet.«
Sendig überlegte einige Sekunden, ehe er mit den Schultern zuckte und in bewußt beiläufigem Ton sagte: »Vielleicht hat er es ja, aber bestimmt nicht in der lackierten Badewanne dahinten.«
Bremer verzichtete diesmal darauf, so zu tun, als würde er über den Scherz lachen. Statt dessen sah er sich aufmerksam in dem kubischen Schwarzen Loch um, in das Löbach die Küche verwandelt hatte. Auch hier stapelten sich Abfälle und aufgeplatzte Tüten mit verschimmelten Lebensmittelresten gut knöchelhoch, aber die Arbeitsfläche und die Spüle waren leer, abgesehen von dem Steakmesser und der roten Tropfenspur, die es hinterlassen hatte.
Sendig öffnete der Reihe nach und auf die gleiche, übervorsichtige Art wie im Bad sämtliche Türen oder versuchte es zumindest. Die meisten waren allerdings ebenso verklebt wie die des Spiegelschrankes. Irgend jemand hätte Löbach vielleicht sagen sollen, daß es kaum einen zuverlässigeren Kleber gab als frischen Lack.
Die wenigen Türen, die sich überhaupt öffnen ließen, waren eine Enttäuschung. Sie fanden ein halbes Dutzend Teller, einige Tassen und zwei Gläser, alles seit Monaten nicht mehr benutzt, und zwei Dosen Hühnersuppe mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum.
»Viel gegessen scheint er hier in letzter Zeit nicht zu haben«, sagte Bremer. »Ich frage mich, wie jemand nach außen hin einen ganz normalen Schein wahren, aber in Wirklichkeit so leben kann.«
»So ganz normal war sein Leben nun auch wieder nicht.« Sendig rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander und roch daran. »Die Farbe ist noch nicht sehr alt. Allerhöchstens zwei, drei Tage, schätze ich. Es würde mich nicht wundern, wenn das Labor herausfindet, daß er diese ganze Verwüstung hier erst in den letzten Tagen angerichtet hat.«
Er ließ sich in die Hocke sinken und öffnete die Kühlschranktür. Auf den drei gläsernen Borden lagen ein paar vergammelte Lebensmittel - und eine Anzahl kleiner, durchsichtiger Plastikbeutel, die eine körnige weiße Substanz enthielten. Der Marzipangeruch entströmte eindeutig einem dieser Beutel, der aufgeschnitten und nicht besonders sorgfältig verschlossen worden war.
»Was ist das?« Bremer ließ sich neben Sendig in die Hocke sinken und verhielt sich, nicht zum ersten Mal an diesem Abend, nicht besonders professionell, denn er wollte die Hand nach einem der Beutel ausstrecken, aber Sendig hielt ihn zurück.
»Um Gottes willen, nicht anrühren!« sagte Sendig - nein, er keuchte es. Seine Finger umschlossen Bremers Handgelenk so fest, daß es weh tat. Schon im nächsten Moment hatte er sich wieder unter Kontrolle; er ließ Bremers Arm los und lächelte nervös.