Die letzten Sätze hatte er lauter gesprochen, und sie galten nicht Claudia, sondern dem Mikrophon, das sicherlich noch immer jedes seiner Worte aufzeichnete. »Sie täuschen sich, ich bin nicht zu erpressen.«
Ganz plötzlich wurde ihm klar, daß das tatsächlich stimmte. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Niemand würde ihn fragen, was er getan hatte. Es spielte keine Rolle. Claudia war erwacht. Gegen jede Hoffnung, gegen all seine wissenschaftliche Überzeugung und die seiner Kollegen hatte sie die Mauer niedergerissen, hinter der sich ihr Bewußtsein mehr als ein halbes Jahrzehnt verborgen gehalten hatte, und das war alles, was im Moment interessierte. Sie erinnerte sich. Vielleicht nicht einmal wirklich. Vielleicht nur an das, was ihr diese erpresserische kleine Ratte erzählt hatte, aber das war gleich. Noch gestern hatte sie nicht einmal gewußt, wer sie war.
»Wann hat er es dir erzählt?« fuhr er aufgeregt fort. Er mußte sich zusammenreißen, damit sie seine Erregung nicht zu deutlich spürte. Vielleicht war die Tür nur einen Spaltbreit geöffnet; eine unbedachte Bewegung mochte genügen, sie wieder ins Schloß zu werfen, und das möglicherweise für immer. Artner war wild entschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen; er hatte den Fuß einmal in der Tür, und dort würde er bleiben, selbst wenn er ihm dabei zerquetscht wurde. Aber er mußte behutsam vorgehen.
»Heute? Gestern? Was genau hat er erzählt?«
»Nicht der Pfleger«, antwortete Claudia mit einem Lachen, als hätte er etwas ungemein Naives gefragt. »ER.«
»Er? Wer... Von wem sprichst du? War außer mir noch jemand hier? Einer der anderen Ärzte vielleicht?«
»Er ist noch immer hier«, antwortete Claudia. »Ich habe so lange auf ihn gewartet, aber ich wußte immer, daß er kommt. Er hat es mir gesagt, und was er sagt, das hält er auch ein.«
Artner nickte. Er war nicht überrascht. Auch nicht enttäuscht. Von all den Klischees, die über Geistesgestörte bei den - sogenannten - Normalen existierten, kamen Phantome und körperlose Stimmen, die Befehle erteilten, der Wahrheit vielleicht am nächsten. Aber er kam endlich auf die richtige Idee, den Umkehrschluß aus Claudias Worten zu ziehen und zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß der Pfleger das Mikrophon tatsächlich abgeschaltet hatte, und zog sein eigenes Diktiergerät aus der Tasche. Er schaltete es ein und legte es deutlich sichtbar auf die Bettdecke zwischen Claudia und sich. Das Mädchen betrachtete es neugierig. Das gleichmäßige Rotieren der winzigen Spulen faszinierte sie sichtlich.
»Dieser... Er«, begann Artner vorsichtig. »Wer ist er? Wie sieht er aus? Ich meine - ist er nur eine Stimme, oder hat er auch einen Körper?«
»Natürlich hat er einen Körper!« antwortete Claudia lachend, diesmal in einem Ton, der ganz deutlich machte, daß sie mittlerweile ihn für verrückt hielt.
»Ich nehme an, er kommt dich ab und zu besuchen«, vermutete Artner.
»Er ist hier«, antwortete Claudia.
»Immer? Ich meine: auch jetzt, in diesem Augenblick?«
»Aber natürlich«, sagte Claudia. Sie seufzte, zog die Beine unter den Körper und rückte ein kleines Stück von ihm fort. »Das ist ein dummes Spiel«, sagte sie. »Ich will es nicht mehr spielen.«
Fast ohne daß er es spürte, schlich sich ein Lächeln in Artners Züge. Er hatte beinahe vergessen, daß er es im Grunde mit einer Elfjährigen zu tun hatte, die sich nur zufällig im Körper einer jungen Frau aufhielt. Wenn das Wunder Bestand hatte, würde es sicher interessant sein zu beobachten, in welchem Tempo ihr Geist die Zeit aufzuholen imstande war, die ihr Körper ihm voraus hatte.
»Also ist er auch jetzt hier«, sagte er. »Und wo? Ich... würde ihn gerne sehen.«
»Hinter dir«, antwortete Claudia. »Du mußt dich nur herumdrehen, dann kannst du ihn sehen. Aber ich weiß nicht, ob du das wirklich willst.«
Artner drehte sich nicht herum. Er wußte, was er sehen würde - nämlich rein gar nichts. Doch er wußte auch, daß dies ein gefährlicher Moment war. Er hatte den Fuß wieder ein kleines Stückchen weiter in die Tür geschoben, aber er mußte nun aufpassen, daß er sie nicht versehentlich selbst zuwarf.
»Er spricht also mit dir«, sagte er. »Und was sagt er? Ich meine: Erzählt er dir Geschichten, oder gibt er dir Befehle? Stellt er Fragen?«
Hinter ihm war ein Geräusch. Etwas raschelte. Nein, kein Rascheln. Es war ein Laut, als würde ein prall aufgeblasener Luftballon von einer Faust zusammengedrückt. Beinahe hätte Artner sich erschrocken herumgedreht, aber er unterdrückte den Impuls im letzten Moment. Da war nichts. Da konnte nichts sein. Die Tür ließ sich nur mit dem Schlüssel öffnen, den er in der Tasche hatte - sowohl von dieser als auch von der anderen Seite.
»Er ist da«, sagte Claudia noch einmal. »Das reicht. Er muß nicht viel sagen. Er hatte versprochen, daß er kommen würde, damals, als sie... als sie mich hergebracht haben. Damals hat er es mir versprochen, und ich wußte, daß er sein Versprechen einhält. Deshalb habe ich nicht mit euch geredet. Ich durfte es nicht.«
»Warum?« fragte Artner. »Hat er es dir verboten? Und du hast dich all die Jahre daran gehalten? Die ganze Zeit?«
»Es war sehr lange«, bestätigte Claudia. »Aber ich wußte ja, daß er kommt. Er lügt nie. Das kann er gar nicht.«
Der Ballon wurde weiter zusammengedrückt. Das stumpfe Gummigeräusch nahm an Intensität zu. Es war ein sehr unangenehmer Laut, der den Effekt von Fingernägeln auf einer Schiefertafel oder einer Gabel auf einem Topfboden hatte. Artner spürte ein unbehagliches Kribbeln, das sein Rückgrat hinunterlief. Etwas wie unsichtbare Finger schien seine Kehle zu berühren - nicht, um ihn zu ersticken, aber um ihm das Atmen schwieriger zu machen. Und plötzlich hatte er das ganz intensive Gefühl, daß da tatsächlich etwas war. Er gestattete sich nicht, diesem Gefühl nachzugeben. Ebensowenig wie er dem Impuls nachgab, sich doch herumzudrehen. Das Phänomen war ihm bekannt, auch wenn er es noch nie am eigenen Leibe erlebt hatte. Claudia wäre nicht die erste Patientin, die über eine erstaunliche Suggestivkraft verfügte, und er wäre nicht der erste Arzt, der ihr erlag. Schließlich war er ihr schon einmal erlegen, wenn auch in vollkommen anderer Hinsicht.
»Es war in der Tat eine sehr lange Zeit«, sagte er. »Ich habe dir wirklich geglaubt, weißt du? Und die anderen auch. Wir dachten, du könntest dich an nichts erinnern.«
Ein deutlicher Ausdruck von Trauer erschien in Claudias Augen. »Ich durfte nichts verraten«, sagte sie. »Ich glaube, ich... ich hätte es dir auch jetzt nicht sagen sollen. Vielleicht war es ein Fehler. Er wird vielleicht zornig.«
»Und dann wird er dir etwas tun?« vermutete Artner.
»Nein. Aber ich habe Angst, daß er dir etwas tut. Ich... ich weiß, daß du mein Freund bist, und was... wir getan haben, das war sehr schön. Aber er sagt, daß es nicht gut war. Er ist zornig auf dich, und er will dich bestrafen.«
»Und wie?« fragte Artner. Das Geräusch war immer noch da. Etwas leiser jetzt, dafür aber auch deutlicher. Etwas war hier. Verdammt, es konnte nicht sein, und er würde sich einfach nicht erlauben, ausgerechnet in diesem Moment hysterisch zu werden, aber er hatte das immer deutlichere Gefühl, daß jemand - etwas - den Raum betreten hatte. Verrückt, völlig verrückt. Dabei sollte er doch der Normale hier sein!
»Geh jetzt«, sagte Claudia plötzlich. »Geh schnell. Er ist sehr wütend.«
»Auf mich?« fragte Artner.