Выбрать главу

»Jemand hat mich verraten«, sagte Mark grimmig.

»Nein«, antwortete Prein. »Oder doch, ja, Sie selbst.«

»Ich?«

Mark blieb überrascht mitten im Schritt stehen und starrte Prein an. Aber der Direktor war schon auf der anderen Seite des Wagens und weigerte sich, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, sondern schloß die Tür auf und stieg ein. Erst als Mark auf dem Beifahrersitz Platz genommen und sich angeschnallt hatte, redete Prein weiter.

»Das mit dem Wagen, da war ich nicht sicher«, sagte er. »Ich habe gehofft, daß Sie mir diese Chance geben, aber ganz überzeugt war ich nicht. Aber ich war sicher, daß Sie gehen. Und zwar heute, an Ihrem achtzehnten Geburtstag. Eigentlich habe ich Sie schon eine Stunde früher erwartet. Schlag zwölf. Übrigens - herzlichen Glückwunsch.«

»Und wieso?« fragte Mark. Preins Gratulation überhörte er absichtlich. Heute war sein Geburtstag, aber es bestand absolut kein Grund zum Feiern. Der Direktor startete den Motor und schaltete nacheinander das Licht und die Scheibenwischer ein. Es nieselte leicht, und die Regentropfen zerschellten auf der Windschutzscheibe zu Millionen winziger Prismen. »Weil ich Sie kenne, mein lieber Junge«, antwortete er. »Ja, ja, ich weiß - Sie sind nicht mein lieber Junge, aber ich bleibe trotzdem dabei. Aus alter Gewohnheit, sozusagen. Sie sind seit sechs Jahren hier, und Sie waren in diesen sechs Jahren nicht unbedingt das, was man einen Musterschüler nennt, nicht wahr? Ich erinnere mich nicht an einen einzigen Monat, in dem Ihr Name nicht aus dem einen oder anderen Grund in irgendeiner Besprechung erwähnt wurde - oder bei einer Beschwerde auftauchte. Und vor einem knappen Jahr hat sich das schlagartig geändert. Sie sind immer noch kein Musterschüler, aber längst nicht mehr so renitent und aufsässig wie früher. Dafür gibt es eigentlich nur zwei Erklärungen: Sie sind schlagartig vernünftig geworden oder haben sich entschlossen, die Zähne zusammenzubeißen und es irgendwie durchzustehen, ohne allzuviel Schaden zu nehmen. Und Schüler, die von einem Tag auf den anderen vernünftig werden, sind äußerst selten, das können Sie mir glauben.«

»Ich wußte nicht, daß ich so leicht zu durchschauen bin«, sagte Mark zerknirscht.

»Nur keine Sorge, das sind Sie nicht«, antwortete Prein. Plötzlich lachte er wieder. »Soll ich Ihnen verraten, woher ich so genau wußte, wann Sie abreisen? Sie haben vor zwei Wochen das Ticket gekauft. Der Mann am Fahrkartenschalter hat mich angerufen.«

»Wie bitte?« fragte Mark entrüstet.

»Das hier ist eine kleine Stadt«, sagte Prein. »Sie sind nicht der erste Internatszögling, der sich klammheimlich eine Fahrkarte besorgt und abreist. Wir haben... gewisse Vereinbarungen mit den Leuten am Bahnhof.«

»Interessant«, sagte Mark. »Aber nicht so ganz legal, oder?«

»Keine Ahnung«, gestand Prein. »Und im Moment wohl auch ziemlich gleichgültig. Haben Sie wenigstens vor, weiter zur Schule zu gehen? Sie wissen, daß Sie das Abi mit links schaffen können, wenn Sie sich nur ein bißchen anstrengen.«

»Also kommen Sie endlich zum Thema«, sagte Mark. Der Wagen hatte die Ausfahrt erreicht, und Prein warf einen raschen Blick in beide Richtungen die Straße hinunter, bevor er Gas gab. Obwohl das Internat mitten in der Stadt lag, waren sie das einzige Fahrzeug, das unterwegs zu sein schien.

»Das bin ich schon die ganze Zeit«, antwortete Prein. »Wir reden über Sie, oder etwa nicht? Und um nichts anderes geht es. Ob Sie es glauben oder nicht - ich kann Sie verstehen.«

»Das glaube ich kaum«, sagte Mark leise. Vermutlich glaubte Prein sogar genau zu wissen, was in ihm vorging, aber das konnte er gar nicht. Er hatte sechs Jahre Einzelhaft in der Hölle hinter sich, und er wußte nicht einmal, warum. In ihm saß ein Schmerz, der so tief war und so fest verwurzelt, daß er ihn wahrscheinlich nie wieder völlig loswerden würde. Man hatte ihn verletzt. Nicht nur sein Vater, die ganze Welt hatte ihn verletzt, vollkommen grundlos und sehr tief. Dafür haßte er sie: die ganze Welt, seinen Vater und am allermeisten sich selbst, daß er diese grausame Strafe so lange ertragen hatte, ohne den Mut aufzubringen, sich zu wehren. Und im Grunde tat er das auch jetzt noch nicht. Er lief davon, das war alles.

»Ich war nicht besonders begeistert, als Ihr Vater Sie damals hergebracht hat«, sagte Prein. »Ich leite zwar ein Internat, aber ich lebe trotzdem nicht im vorletzten Jahrhundert. Ich glaube nicht, daß man irgend jemanden zu seinem Glück zwingen kann. Sie wollten nicht hier sein. Sie wollten nicht kommen, und Sie wollten nicht bleiben. Und Sie waren jeden einzelnen Tag unglücklich, an dem Sie hiergewesen sind. Richtig?«

Mark schwieg, doch das war Prein Antwort genug.

»Ich kenne solche Geschichten zur Genüge«, sagte er. »Sie gehen fast immer schief. Und bei Ihnen hat es mir besonders leid getan.«

»Und wieso?« fragte Mark einsilbig. Er fühlte sich immer unbehaglicher. Er hatte erwartet, daß Prein ihm drohen oder ihn ködern oder mit einer Kombination aus beidem versuchen würde, ihn umzustimmen, doch er tat nichts von alledem, und damit verstieß er irgendwie gegen die Spielregeln. Was er tat, das war nicht fair.

»Weil ich Sie mag«, antwortete Prein ganz offen. »Sie sind ein intelligenter Junge. Sie waren damals ein intelligentes Kind, und Sie sind zu einem cleveren jungen Mann herangewachsen, der seinen Weg ganz bestimmt geht. Ich nehme meinen Beruf sehr ernst, wissen Sie. Ich glaube nicht, daß meine Pflicht sich darin erschöpft, Ihnen acht Stunden am Tag lateinische Vokabeln einzuhämmern und es Ihnen möglichst schwerzumachen, sich außerhalb der Sperrstunde aus dem Internat zu entfernen. Außerdem zahlt mir Ihr Vater eine Menge Geld dafür, daß ich mich um Sie kümmere.«

Endlich kam er zur Sache, dachte Mark. Sein Vater hatte die Hand im Spiel, natürlich hatte er das. Was hatte er erwartet? »Weiß er Bescheid?« fragte er.

»Ihr Vater?« Prein schüttelte den Kopf. »Gott bewahre, nein. Noch nicht. Ich werde ihn anrufen - das muß ich -, aber nicht sofort. Sie sind um sieben am Bahnhof, richtig? Dann reicht es, wenn ich ihn kurz danach benachrichtige. Er wird mir glauben, wenn ich behaupte, daß Ihr Verschwinden erst am Morgen aufgefallen ist. Versprechen Sie mir, nach Hause zu gehen und nicht irgendeinen Blödsinn zu machen?«

»Sie haben doch gerade selbst gesagt: Ich bin ein intelligenter Junge. Würde ein intelligenter Junge irgendeinen Blödsinn machen?«

»Gerade die Intelligentesten machen den größten Blödsinn«, sagte Prein lachend. »Sie würden sich wundern.«

Mark warf einen Blick nach vorne. Sie waren nicht mehr weit vom Bahnhof, entfernt. Die Dreiviertelstunde Fußmarsch, die er einkalkuliert hatte, war auf knapp fünf Minuten zusammengeschrumpft, aber er wünschte sich fast, er hätte Preins Angebot ausgeschlagen. Der Direktor spielte dieses Spiel nach seinen Regeln, die Mark weder kannte noch beherrschte. Er sollte nicht so freundlich sein.

»Warum tun Sie das?« fragte er.

»Was?«

»Das wissen Sie genau«, antwortete Mark. »Sie geben sich doch nicht mit jedem Ihrer Schüler so große Mühe. Es ist mitten in der Nacht, und Sie sollten eigentlich wütend auf mich sein.«

»Und wer sagt Ihnen, daß ich es nicht bin?«

»Hat mein Vater Ihnen den Auftrag gegeben?« fragte Mark ganz direkt.

»Ich sagte Ihnen doch: Ihr Vater weiß nichts davon«, antwortete Prein. »Warum ich es tue? Zum einen, weil ich meinen Beruf sehr ernst nehme, wie ich schon sagte, und zum anderen, weil ich es ehrlich bedauern würde, wenn Sie jetzt alles wegwerfen. Sie konnten eine glänzende Zukunft vor sich haben. Sie sind intelligent genug, um ein Studium zu schaffen. Sie sind nicht faul, Ihr Vater hat Geld - und Sie laufen vielleicht gerade Gefahr, das alles zu verlieren.«