Statt Schwester Beate tat nun eine ältere Frau in einem grauen Kostüm hinter dem Empfang Dienst. Ihr Haar war zu einem strengen Knoten zusammen- und hochgebunden, und ihr Gesicht hatte einen harten Zug, der es älter erscheinen ließ, als es vermutlich war. Obwohl Mark als erster den Empfang erreichte, sah sie ihn kaum an, sondern blickte zu Bremer hinüber. Mark mußte sich zweimal übertrieben räuspern, ehe sie sich dazu herabließ, ihm wenigstens einen Teil ihrer Aufmerksamkeit zu schenken.
»Bitte?« fragte sie mit einer Stimme, die ebenso grau und streng klang, wie ihr Gesicht aussah.
»Mein Name ist Sillmann«, sagte Mark. »Mark Sillmann. Ich möchte gerne meine Mutter besuchen. Sie ist Patientin hier.«
Die Schwester sah ihn eine Sekunde lang vollkommen ausdruckslos an und verlagerte ihre Aufmerksamkeit dann wieder zu Bremer, der mittlerweile herangekommen war. »Und was kann ich für Sie tun?«
Ihre Besucher zum Beispiel der Reihe nach abfertigen, dachte Mark verärgert, aber er sparte es sich, das auszusprechen. Bremers Uniform gab ihm eine Autorität, gegen die er ohnehin nicht ankam.
Bremer tauschte einen bezeichnenden Blick mit Mark, nannte aber dann seinen Namen und zog völlig überflüssigerweise noch einen in Plastik eingeschweißten Dienstausweis aus der Jacke, den er der Schwester reichte, ohne ihn jedoch aus der Hand zu geben. Sie prüfte ihn sorgfältig und notierte sich etwas auf einem Blatt Papier, wahrscheinlich Bremers Namen und Dienstnummer, vermutete Mark.
»Und was führt Sie hierher, Herr Polizeiobermeister?« fragte sie.
»Es geht um einen Ihrer Patienten«, antwortete Bremer. »Ein Kollege von mir. Er ist heute morgen eingeliefert worden.«
Die Schwester machte ein fragendes Gesicht. »Ein Kollege? Sind Sie sicher?«
»Vollkommen«, antwortete Bremer. »Sein Name ist Hansen. Er hatte einen Unfall in der vergangenen Nacht. Er muß irgendwann zwischen acht und neun hergebracht worden sein.«
Die Schwester zögerte. Ihr Blick war jetzt noch unfreundlicher als zuvor, aber offenbar wagte sie es nicht, sich in einem entsprechenden Ton an Bremer zu wenden. Sie klang allerdings auch alles andere als freundlich. »Ich fürchte, Sie... sind da vielleicht einem Mißverständnis erlegen, Herr Wachtmeister«, begann sie vorsichtig. »Das hier ist -«
»- das St.-Eleonor-Stift, oder?« unterbrach sie Bremer. »Und hier wurde er hergebracht nach meinen Informationen. Ich bin sicher, daß es sich nicht um einen Irrtum handelt.«
»Ich werde mich erkundigen«, versprach die Schwester. Sie streckte die Hand nach dem Telefon aus, und Mark fand, daß es an der Zeit war, sich in Erinnerung zu bringen, solange er überhaupt noch eine Chance hätte, wahrgenommen zu werden.
»Entschuldigung«, sagte er. »Kann ich vielleicht durchgehen? Ich kenne den Weg.«
»Das mag sein, junger Mann«, antwortete die Schwester. »Aber das hier ist kein Hotel, wo jedermann kommen und gehen kann, wie er gerade lustig ist. Ich werde nachhören, ob Ihre Mutter Besuch empfangen kann. Haben Sie einen Termin?«
»Nein«, gestand Mark. »Aber ich habe heute morgen erst mit ihr gesprochen, und -«
»Ich erkundige mich.«
Während sie zu wählen begann, drehte sich Mark kurz zu Bremer herum. Der Polizeibeamte maß die Frau hinter dem Schalter mit strengen Blicken, nahm sich aber trotzdem die Zeit, Mark rasch zuzublinzeln, wobei sich für eine Sekunde ein amüsiertes Lächeln in seine Augen stahl. Der Mann wurde ihm dadurch noch sympathischer. Obwohl er ihn kaum kannte, spürte er instinktiv, daß das Urteil seines Vaters zumindest über ihn falsch gewesen war.
Mark wandte sich wieder an die Schwester und fragte: »Übrigens - hat Schwester Beate schon Feierabend? Ich bin mit ihr verabredet.«
Der Gesichtsausdruck der Schwester wurde noch unfreundlicher, als er es wagte, sie beim Telefonieren zu stören - obwohl sie höchstwahrscheinlich nur dem Freizeichen lauschte. »Es gibt hier keine Schwester Beate«, sagte sie grob und ohne ihn anzusehen.
»Wie bitte?« Mark lächelte unsicher. »Sie müssen sich irren. Ich habe heute morgen mit ihr gesprochen.«
»Sie hören doch, was ich gesagt habe«, antwortete die Schwester. »Es gibt hier niemand dieses Namens.«
»Aber -«
Die Schwester hob mit einer ruckartigen Bewegung den Zeigefinger und brachte ihn damit zum Verstummen. Mark hörte nicht hin, während sie mit ihrem Gesprächspartner am anderen Ende der Verbindung redete, aber es dauerte auch nur einen Moment, bis sie sich mit offizieller Miene an Bremer wandte: »Einen Moment Geduld noch, Herr Wachtmeister«, sagte sie. »Doktor Hallenberg wird sich gleich um Sie kümmern.« Sie hängte nicht ein, sondern hielt den Hörer fest und drückte mit zwei Fingern der gleichen Hand auf die Gabel und wählte dann eine andere Nummer. Diesmal vergingen nur wenige Augenblicke, ehe sie eine Verbindung bekam. »Dr. Ehlers? Hier unten ist ein junger Mann. Ein gewisser Mark...« Sie sah Mark eine Sekunde lang nachdenklich an, als bedürfe es seines Anblicks, um sich an seinen Namen zu erinnern. »... Sillmann. Er möchte seine Mutter sprechen. Aber er hat keinen Termin.« Sie lauschte einen Moment auf die Antwort, nickte dann und hängte wortlos ein.
»Einen Moment bitte«, sagte sie.
»Aber das ist wirklich nicht nötig«, sagte Mark. »Sie kennen mich nicht, aber ich komme sehr oft her. Ich besuche meine Mutter regelmäßig, und ich habe noch nie einen Termin gebraucht.«
»Bei mir schon«, antwortete sie unfreundlich. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, meine Herren. Ich habe noch zu tun.«
Mark spürte allmählich einen gehörigen Ärger in sich aufsteigen, und wäre Bremer nicht dabeigewesen, dann hätte er diesem Ärger vermutlich auch Luft gemacht. So sah er die Schwester nur einen Moment lang böse an und wich dann ein paar Schritte vom Empfang zurück. Bremer folgte ihm nach kurzem Zögern. Mark versuchte vergeblich, seinen Gesichtsausdruck zu deuten; er schwankte irgendwo zwischen Verärgerung und Amüsiertheit.
»Geht es hier immer so förmlich zu?« erkundigte sich der Polizeibeamte.
»Nein«, antwortete Mark. »Eigentlich habe ich das noch nie erlebt, aber ich kenne diese Schwester auch nicht. Sie muß neu sein.«
»Offensichtlich«, sagte Bremer. »Immerhin kennt sie nicht einmal den Namen ihrer Kollegin.«
»Scheint so«, sagte Mark.
Der Aufzug kam. Ein kleinwüchsiger Mann in einem weißen Arztkittel trat aus der Kabine und wandte sich mit einem fragenden Blick an die Schwester hinter dem Empfang. Sie deutete wortlos auf Bremer, der sich herumdrehte und dem Arzt entgegenging. Mark entfernte sich diskret einige Schritte; was die beiden miteinander zu besprechen hatten, ging ihn nichts an.
Bremer hatte das große Portal nicht geschlossen, so daß ein schmaler Streifen Tageslicht in das vornehme Halbdunkel der Halle fiel. Draußen fuhr ein Wagen vor. Mark hörte das gedämpfte Motorengeräusch und schlenderte mit langsamen Schritten zur Tür. Es war gar nicht so ungewöhnlich, wie er Bremer gegenüber behauptet hatte, daß er warten mußte. Selbst das Gewicht seines Namens reichte nicht immer aus, sofort vorgelassen zu werden. Ganz im Gegenteil bereitete er sich auf eine längere Wartezeit vor, zumal er ja am Morgen schon einmal hier gewesen war. Er fragte sich, ob seine Mutter sich an diesen Besuch erinnerte.
Er hatte die Tür erreicht und hielt aus purer Langeweile nach dem Wagen Ausschau, den er hatte vorbeifahren sehen. Es war kein blauer BMW, wie er eine halbe Sekunde lang erwartet hatte, sondern ein Krankenwagen. Er hatte ein gutes Stück neben dem Haupteingang angehalten, und die beiden hinteren Türen standen offen. Zwei Männer in weißen Anzügen waren damit beschäftigt, eine Trage mit einer reglosen Gestalt darauf auszuladen.