Er knallte den Hörer auf, ergriff ihn im nächsten Moment noch einmal und schmetterte ihn dann mit solcher Wucht ein zweites Mal auf die Gabel, daß das Kunststoffgehäuse des Telefons riß.
»Idioten«, murmelte er.
Petri trank einen Schluck von seinem Cognac und begann das Glas nervös in der Hand zu drehen. »Ärger?« fragte er.
»Nein«, raunzte Sillmann. »Wie kommen Sie darauf? Aber damit werde ich fertig.« Er folgte Petris Beispiel, aber er begnügte sich nicht mit einem Schluck, sondern leerte sein Glas mit einer einzigen Bewegung. »Und was wollen Sie, Doktor? Wenn es um Marianne geht -«
»Ich habe versucht anzurufen«, antwortete Petri. Er klang sehr nervös. »Das Telefon war ununterbrochen besetzt.«
»Ich hatte zu tun«, antwortete Sillmann grob. »Wie Sie gehört haben. Also - was gibt es so Wichtiges?«
Petri drehte das Glas immer schneller in den Händen, hielt es dann an und bewegte es ruckartig in die Gegenrichtung. Der Cognac darin machte die Kreisbewegung noch einen Moment mit, ehe der winzige Strudel sich auflöste. »Ich habe gerade mit der Klinik telefoniert«, sagte er.
»Lassen Sie mich raten, Doktor«, sagte Sillmann finster. »Mark ist dort.«
»Das auch«, antwortete Petri. »Aber darum geht es nicht. Artner. Artner ist tot.«
»Was?!« Sillmanns Gesicht verlor auch noch den Rest von Farbe.
»Heute nacht«, bestätigte Petri. »Angeblich hat er einen Herzanfall bekommen.«
»Artner?« murmelte Sillmann fassungslos. »Großer Gott. Artner, Löbach, Mogrod... wer noch?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Petri leise. »Aber Sie wissen, was es bedeutet.«
»Ja«, flüsterte Sillmann. »Es hat angefangen.«
21. Kapitel
»Das ist wieder mal typisch!« sagte Sendig kopfschüttelnd, während er mit der einen Hand den Bund mit Dietrichen in die linke Jackentasche gleiten ließ und mit der anderen das Kunststück fertigbrachte, die Tür zu öffnen und zugleich eine einladende Geste zu machen. »Die Leute geben ein Vermögen für Alarmanlagen in ihren Wagen aus und bezahlen extra einen Wachdienst, der ihre Häuser beschützt - und dann bauen Sie ein Schloß ein, das jeder Erstkläßler mit einer Hutnadel aufbekommt! Wo zum Teufel sind Sie so lange geblieben? Ich habe fast eine halbe Stunde auf Sie gewartet.«
Bremer folgte seiner Einladung und trat mit einem schnellen Schritt an dem Kommissar vorbei in die Penthousewohnung. Sendig hatte nicht länger als ein paar Sekunden gebraucht, um das Schloß zu öffnen, und obwohl er dazu einen Dietrich benutzt hatte, zweifelte Bremer keinen Moment lang daran, daß er es auch tatsächlich mit einer Hutnadel und in nicht nennenswert längerer Zeit geschafft hätte. Aber statt zufrieden zu sein, klang er eher beleidigt - beinahe enttäuscht.
»Seien Sie doch froh, daß es so einfach war«, sagte er. »Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich mußte ein paar Umwege machen. Das dauert.«
»Um die Männer in dem BMW abzuschütteln?«
Bremer hatte mit jeder nur denkbaren Bemerkung gerechnet - aber damit nicht. Er hielt abrupt mitten in der Bewegung inne und starrte Sendig an. »Wie?«
»Sagen Sie nicht, Sie hätten sie nicht bemerkt«, sagte Sendig. »Das würde mich enttäuschen.«
»Ich habe sie bemerkt«, begann Bremer, und Sendig unterbrach ihn erneut: »Genau wie ich, auf dem Parkplatz. Aber ehe Sie mich jetzt niederschießen - Sie waren nicht in Gefahr. Sie hätten Ihnen nichts getan.«
»Und was sollte diese Räuberpistole dann?« fragte Bremer zornig. Natürlich war der blaue BMW wieder dagewesen, kaum daß er die Klinik verlassen hatte, und er war ihm nahezu den ganzen Weg hierher gefolgt. Aber eben nur nahezu. Es war Bremer letztendlich gelungen, ihn abzuschütteln. Wenigstens hoffte er das.
»Ich habe gehofft, daß sie Sie observieren und nicht mich«, antwortete Sendig ungerührt. »Wie es aussieht, zu Recht.«
»Wozu?«
»Sagen wir: Ich habe mit jemandem gesprochen, den ich nicht mit in diese Geschichte hineinziehen möchte. Außerdem ist es besser, wenn niemand weiß, daß wir hier sind. Wenigstens noch nicht. Ich hoffe doch, Sie haben sie abgeschüttelt.«
»Ich denke schon«, antwortete Bremer verärgert. »Allerdings mußte ich über ein paar rote Ampeln fahren, und ich fürchte, ich habe auch die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. Mit Ihrem Wagen. Ich hoffe, Sie bekommen ein Dutzend Anzeigen.«
Sendig lachte. »Damit kann ich leben«, sagte er. »Und jetzt lassen Sie uns diese Wohnung durchsuchen.« Er deutete nach rechts. »Sehen Sie sich dort um. Ich nehme mir die Zimmer auf dieser Seite vor.«
Bremer schluckte seinen Ärger herunter, aber er fragte sich, wie lange er das wohl noch konnte. Es war jetzt ungefähr das zehnte Mal, daß er sich selbst sagte, daß Sendig ihn nicht mehr überraschen konnte - und wahrscheinlich würde er es sich auch noch weitere zehnmal sagen. Er verstand nicht einmal wirklich, warum sie überhaupt hier waren. Trotzdem durchquerte er rasch den kurzen Flur und öffnete die Tür an seinem Ende. Sie führte in ein kleines, aber sehr behaglich eingerichtetes Badezimmer ohne Fenster. Bremer blieb einen Moment unter der Tür stehen, um einen Gesamteindruck des Raumes in sich aufzunehmen, dann durchsuchte er ihn sehr gründlich, fand aber nichts außer den üblichen Badezimmer-utensilien: Handtücher, Toilettenpapier und ein penibel aufgeräumter Schrank mit Wäsche, ein kleiner, nahezu leerer Medikamentenschrank über dem Waschbecken und ein Bademantel mit Monogramm und leeren Taschen, der säuberlich neben der Duschkabine aufgehängt war. Nicht das kleinste Stäubchen. Badewanne, Waschbecken und Dusche waren frisch poliert, und die Toilette blitzte vor Sauberkeit. Selbst das Klopapier war fast militärisch aufgereiht. Wenn es in der ganzen Wohnung so aussah, dachte Bremer, dann mußte Artner entweder eine übereifrige Putzfrau haben oder ein verfluchter Pedant sein.
Der nächste Raum, den er durchsuchte, war das Schlafzimmer. Er brauchte sehr viel länger dazu, kam aber zum gleichen Ergebnis: Er fand nichts - was allerdings zu einem Gutteil daran liegen mochte, daß er gar nicht wußte, wonach sie eigentlich suchten - und war jetzt sicher, daß Artner einen Sauberkeitstick hatte - beziehungsweise gehabt hatte.
Er traf Sendig im Wohnzimmer wieder, das nicht nur überraschend groß war, sondern auch einen radikal anderen Anblick bot als der Teil der Wohnung, den er durchsucht hatte: Die eine Hälfte des Raumes war so pedantisch aufgeräumt und sauber wie Bad und Schlafzimmer, die andere glich einem Chaos. Bremer hatte sich bemüht, alles so zu hinterlassen, wie sie es vorgefunden hatten, und nichts zu verändern, aber Sendig hatte da weniger Hemmungen: Als Bremer eintrat, fischte er gerade eine Reihe Taschenbücher vom Regal, um sie rasch durchzublättern und dann achtlos fallen zu lassen. Der Weg, den er genommen hatte, war genau nachzuverfolgen: Herausgerissene Schubladen, Schallplatten und achtlos verstreute CDs, die aus ihren Hüllen gerissen worden waren, Videocassetten und Papiere bildeten eine Trümmerspur, die Sendig wie eine emsige Verwüstungsmaschine mit erstaunlicher Schnelligkeit verlängerte.
»Halten Sie das für klug?« fragte Bremer mißbilligend.
»Was?« Sendig schien im ersten Moment gar nicht zu verstehen, was Bremer meinte. Dann senkte er den Blick, sah mit gespielter Betroffenheit auf das Chaos hinunter, das ihm mittlerweile fast bis zu den Waden reichte, und sagte: »Oh. Ich verstehe. Aber ich glaube nicht, daß es den verstorbenen Professor noch besonders stört, wissen Sie.«
»Ihn nicht«, antwortete Bremer - wider besseres Wissen. Es hatte einfach keinen Sinn, mit Sendig zu diskutieren. Trotzdem fuhr er fort: »Aber vielleicht andere. Jemand könnte herkommen -«
»- und annehmen, daß eingebrochen worden ist«, fiel ihm Sendig ins Wort und ließ das nächste Buch fallen. »Und? Haben Sie Angst, daß uns jemand anzeigt?« Er lachte. »Was sollen sie tun? Die Polizei rufen?«