»Video-8-Bänder«, sagte er.
Sendig nickte heftig. »Erstaunlich, erstaunlich«, sagte er. »Ich bin gespannt, was da wohl drauf ist. Sieht so aus, als hätte Professor Artner doch das eine oder andere Hobby außer seinem Beruf. Was mag da wohl drauf sein, daß er sie so sorgfältig versteckt?«
Sendig sah sich nachdenklich um. »Irgendwo hier habe ich eine Adaptercassette gesehen«, sagte er. »Helfen Sie mir, sie zu finden.«
Bremer rührte sich nicht. Schließlich hatte er das Chaos nicht angerichtet, sondern Sendig selbst. Sollte er doch jetzt sehen, wie er diese verdammte Cassette wiederfand. Aber das war nicht der einzige Grund. Das ungute Gefühl war wieder da. Nein, es war kein Gefühl. Bremer war plötzlich sicher, daß sie sich diese Bänder nicht ansehen sollten. Mehr noch - er wollte plötzlich gar nicht mehr wissen, was sie enthielten.
»Vielleicht sollten wir die Bänder mitnehmen und später betrachten«, sagte er.
Sendig ließ sich in die Hocke sinken und wühlte mit beiden Händen in dem Durcheinander aus Büchern, Papieren und Tonband- und Videocassetten herum, das vor zehn Minuten noch säuberlich sortiert auf den Regalbrettern vor ihnen gelegen hatte. Er fand fast sofort, wonach er suchte. Es vergingen nur ein paar Sekunden, bis er sich wieder aufrichtete und Bremer triumphierend die Adaptercassette entgegenhielt.
»Sehen Sie? In einem ordentlichen Haushalt geht eben nichts verloren. Geben Sie mir eines der Bänder.«
Bremer nahm tatsächlich eine der kleinen Cassetten aus dem Geheimfach, aber er zögerte, sie Sendig auszuhändigen. Es war, als flüsterte ihm eine lautlose Stimme zu, es nicht zu tun. »Wir sollten sie mitnehmen«, sagte er noch einmal. »Und später ansehen.«
»Sind Sie denn gar nicht neugierig?« Sendig lachte. »Wahrscheinlich sind das ganze heiße Geschichten. Es ist besser, wir werfen wenigstens einen Blick hinein. Stellen Sie sich nur vor, wir geraten in eine Verkehrskontrolle, und man findet einen Koffer voller Kinderpornos bei uns. So etwas ist strafbar.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Wer weiß - man kann ja auch mal Glück haben.«
Bremer blieb ernst. »Das sind mehr als zehn Bänder«, sagte er. »Zwanzig Stunden. Und ich finde, wir sind jetzt schon zu lange hier.«
»Wer sagt denn, daß ich sie alle ansehen will?« fragte Sendig. Er nahm Bremer kurzerhand das Band aus den Fingern und ließ es in die Adaptercassette gleiten, die er in den Videorecorder über dem Fernseher schob. Sowohl Recorder als auch Fernseher waren supermodern und offensichtlich nagelneu, und für einen Moment schöpfte Bremer noch einmal Hoffnung, denn Sendig hatte sichtlich Mühe, mit der Fernbedienung zurechtzukommen; auf der Mattscheibe war nur weißes Rauschen.
»Scheißtechnik«, fluchte Sendig. »Da fliegen sie zum Mond und demnächst zum Mars, aber noch keiner hat eine Fernbedienung erfunden, zu deren Bedienung man keinen akademischen Grad braucht!«
»Wir sollten das ganze Zeug mitnehmen und uns zu Hause ansehen«, sagte Bremer. »Mit meinem Recorder komme ich klar.«
»Und ich mit diesem Scheißding, und wenn es das letzte ist, was ich tue!« versprach Sendig. Er drückte verbissen weiter auf Knöpfe und Tasten, und plötzlich machte das grauweiße Flimmern auf der Mattscheibe einem Bild Platz.
»Na also!« sagte Sendig triumphierend. »Was haben wir denn da?«
Bremer schwieg. Im ersten Moment erkannte er gar nichts, denn das Band war entweder sehr alt und unzählige Male abgespielt worden oder mit der miserabelsten Kamera aufgenommen, von der er je gehört hatte. Aber nach ein paar Augenblicken wurde die Qualität besser; die grauen Schlieren auf dem Bildschirm gerannen zu den Umrissen eines winzigen, weißgestrichenen Raumes, der von einer Position hoch oben unter der Decke aus aufgenommen worden war. Soweit Bremer erkennen konnte, hatte er kein Fenster, und die Einrichtung bestand lediglich aus einem Bett und einer modernen, aber einfachen Waschgelegenheit. Auf dem Bett saß eine schlanke Gestalt, eine junge Frau oder ein Mädchen, die ein einfaches weißes Nachthemd trug. Sie hatte die Beine unter den Körper gezogen und den Kopf gesenkt, so daß ihr Gesicht nicht zu erkennen war.
»Was ist denn das?« murmelte Sendig.
»Ein Krankenzimmer«, antwortete Bremer überflüssigerweise. Seine Zunge war plötzlich trocken. Er hatte Mühe, zu sprechen. Warum beunruhigte ihn dieses Bild so? Es war so banal, wie es nur sein konnte. Und trotzdem beunruhigte es ihn.
Ein Schatten bewegte sich auf dem Bild, und eine halbe Sekunde später trat der dazugehörige Körper in den Aufnahmebereich der Kamera.
»Holla«, sagte Sendig. »Wissen Sie, wer das ist?«
»Nein«, antwortete Bremer.
»Professor Artner höchstpersönlich.«
Artner. Bremer konnte selbst nicht sagen, warum, aber die Erkenntnis machte aus dem Gefühl vager Beunruhigung eine nicht annähernd so vage Angst.
Einzig, um diesem unwirklichen Gefühl Einhalt zu gebieten und überhaupt etwas zu sagen, räusperte er sich und sagte in einem Ton, der nicht einmal annähernd seine wirklichen Gefühle widerspiegelte: »Sieht so aus, als hätten Sie heute Pech, Sendig. Keine Kinderpornos.«
Sendig lachte unecht, und im gleichen Moment hob das Mädchen auf dem Bett den Kopf. Und als Bremer in ihr Gesicht sah und es erkannte, da wünschte er sich fast, sie hätten das gefunden, was Sendig sich erhofft hatte.
22. Kapitel
Die Kellnerin stellte das Tablett mit Eiscafé und Cola zwischen Beate und Mark auf den Tisch und bestand darauf, gleich zu kassieren. Das hatte sie die beiden Male zuvor auch schon getan, und Mark fand jetzt wirklich keinen plausiblen Grund dafür. Es konnte kaum daran liegen, daß sie seine Zahlungskraft anzweifelte; er hatte ganz bewußt mit einem großen Schein bezahlt und ein schon fast übertriebenes Trinkgeld gegeben. Trotzdem war sie weder freundlicher noch schneller geworden. Sie strich den Betrag auch diesmal kommentarlos ein und ging, und das auf eine Art, die Mark klarmachte, daß sie es wesentlich lieber gesehen hätte, wenn er gegangen wäre.
»Du scheinst heute deinen Pechtag zu haben«, sagte Beate. Die finsteren Blicke, die Mark der Bedienung nachschickte, waren ihr nicht entgangen.
Wenn du wüßtest, wie recht du hast! dachte Mark. Laut und mit einem schmerzlichen Verziehen der Lippen sagte er: »Vor allem, wenn man bedenkt, daß heute eigentlich mein Geburtstag ist.«
»Ja.« Beate griff nach ihrem Glas, aber sie nippte nur daran. »Was mich zu einer Frage bringt, die einer von uns allmählich stellen muß, fürchte ich. Hast du dir überlegt, wie wir ihn feiern? Ich meine«, sie machte eine Kopfbewegung auf das Glas in ihrer Hand, »noch ein Eiscafe, und ich platze.«
»Und die Kellnerin hetzt mir die Mafia auf den Hals, ich weiß«, seufzte Mark. »Entschuldige.«
»Wofür?«
»Na ja - ich habe dich eingeladen, meinen Geburtstag mit mir zu feiern. Und jetzt langweile ich dich zu Tode.«
»Ganz so schlimm ist es noch nicht«, antwortete Beate. »Aber es ist schade um den freien Tag. Ich habe nur einen pro Woche. Und die Millionärssöhne stehen bei mir Schlange, mußt du wissen. Ich muß mir schon überlegen, mit wem ich ausgehe.«
»Ich wußte es«, sagte Mark. »Schwester Rabiata hatte recht. Du bist eine Mitgiftjägerin. Ich nehme an, du willst mich betrunken machen, und wenn ich morgen früh aufwache, sind wir verheiratet.«
»Dich?« Beate schüttelte heftig den Kopf. »Bestimmt nicht. Ich will deinen Vater heiraten. Glaubst du, ich habe Lust zu warten, bis du das ganze Geld erbst?«