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Mark lachte, obwohl der Scherz einen ganz leisen, üblen Nachgeschmack hinterließ. Natürlich war es ein Scherz, aber allein der Umstand, daß sie seinen Vater erwähnte, verdarb ihm den Tag noch ein bißchen mehr.

»Hoppla«, sagte Beate. Sein Gesichtsausdruck sprach offensichtlich Bände. »Jetzt bin ich wohl ins Fettnäpfchen getreten. Ich wollte dir nicht die Laune verderben.«

»Das hast du nicht«, behauptete Mark. »Ich fürchte, das geht gar nicht mehr.«

»So schlimm?«

Mark zuckte zur Antwort die Achseln - das war vielleicht klüger, als schon wieder etwas zu sagen, was ihm im gleichen Moment leid täte. In einem hatte Beate vollkommen recht - heute war sein Pechtag, und zwar in jeder Beziehung. Es hatte mit der Frau im Zug angefangen und war ohne Unterbrechung, aber mit einer deutlich ansteigenden Tendenz bis jetzt weitergegangen. Offensichtlich war er heute einfach nicht in der Lage, zu irgend jemandem freundlich zu sein.

»Möchtest du darüber reden?«

»Nein«, antwortete Mark. Andererseits: warum eigentlich nicht? Was er im Moment am allernötigsten brauchte, war jemand, mit dem er reden konnte, vermutlich sogar nur jemand, der zuhörte. Und Beate war dazu wahrscheinlich besser geeignet als jeder andere, den er kannte. Er konnte jetzt weniger sagen denn je, warum es so war, aber das Gefühl der Vertrautheit, das er vom ersten Moment an in ihrer Nähe gespürt hatte, war noch immer da, und es war sogar noch stärker geworden. Es war schon beinahe unheimlich: Alles in allem waren sie jetzt seit zwei oder drei Stunden zusammen, und er hatte das Gefühl, sie zu kennen, solange er sich zurückerinnern konnte. Was war das? dachte er. Einsamkeit, die verzweifelt nach irgendeinem Ventil suchte, oder tatsächlich einer jener seltenen Fälle, in denen sich zwei Menschen trafen, die so perfekt zueinander paßten wie die zwei zerbrochenen Hälften eines eigentlich zusammengehörenden Ganzen? Er wußte es nicht. Er wußte auch nicht, ob das, was er spürte, tatsächlich die vielzitierte Liebe auf den ersten Blick war - allein, weil er noch nie wirklich jemanden geliebt hatte. Er wußte nur, daß es ein wunderbares, warmes Gefühl war und daß er es auf gar keinen Fall irgendwie gefährden wollte. Wenn es einen Menschen auf der Welt gab, dem er sich im Moment hätte anvertrauen wollen, dann war es Beate. Und zugleich war sie der letzte Mensch auf der Welt, den er mit seinen Problemen belasten wollte.

»Hm?« machte Beate.

Auch das gehörte dazu: Er verstand die Frage, ohne daß sie sie überhaupt aussprechen mußte.

»Es ist kompliziert«, seufzte er.

»Was?«

»Woran ich denken muß.«

»Zu kompliziert? Ich meine: nur für mich zu kompliziert, oder für Frauen im allgemeinen?«

»Für mich«, antwortete Mark, Er seufzte. »Es ist alles... sehr schwierig. Aber du hast schon recht - gehen wir und machen die Stadt unsicher.«

Während er aufstand, ließ er seinen Blick über die Straße schweifen. Sie waren tatsächlich ein gutes Stück zu Fuß gegangen, ehe sie schließlich ein Taxi angehalten hatten und hierher gefahren waren, nicht ganz zu ihm nach Hause, aber doch nur zwei Straßen entfernt. Die Adresse war ihm erst aufgefallen, als er sie dem Taxifahrer nannte und Beate ihn überrascht ansah. Es war nicht unbedingt eine Gegend, die zu einem Stadtbummel einlud oder gar zum Feiern. Das Straßencafé, in dem sie saßen, war das einzige Lokal weit und breit. Ansonsten reihten sich zu beiden Seiten schmucke Einfamilienhäuser der gehobenen Mittelklasse, meist hinter gepflegten Vorgärten oder auch mannshohen Mauern gelegen. Eine hübsche, aber langweilige Gegend. Das einzig Außergewöhnliche war der dunkelblaue BMW, der schräg gegenüber dem Cafe auf der anderen Straßenseite geparkt war.

Mark registrierte ihn erst beim zweiten Hinsehen. Dabei hatte sich der Fahrer nicht die geringste Mühe gegeben, vorsichtig zu sein: Der Wagen stand, mit zwei Rädern auf dem Bürgersteig geparkt, ein bißchen schräg da, was ihn bei seiner Größe fast wie ein gestrandetes Schiff aussehen ließ. Hinter den getönten Scheiben waren zwei Gestalten zu erkennen. Mark konnte ihre Gesichter nicht sehen, aber er spürte einfach, daß sie ihn anstarrten.

»Was ist los?« fragte Beate, und erst ihre Frage machte Mark klar, daß er sekundenlang wie gelähmt dagestanden und den Wagen angestarrt hatte. Vermutlich war er auch blaß geworden.

Mark drehte sich mit einer übertrieben heftigen Bewegung wieder zu ihr herum und zwang sich zu einem Lächeln. »Nichts«, sagte er. »Ich hatte gerade einen heftigen Anfall von Paranoia.«

»Das ist heilbar«, antwortete Beate gelassen. »Vertrau mir, ich weiß, wovon ich rede. Es kann ein paar Jahre dauern, aber ich verspreche dir, mich um dich zu kümmern. Du bekommst die beste Behandlung.«

»Zu freundlich«, maulte Mark. »Du bist wie eine Mutter zu mir.«

»Irgendwie werde ich das ja auch«, sagte Beate ernst. »Spätestens dann, wenn ich demnächst deinen Vater geheiratet habe.«

Mark lachte ebenfalls, wenn auch im Grunde nur, weil er das Gefühl hatte, es zu müssen, und auch nicht sehr lange. Sie alberten herum, aber diese Albernheiten begannen sich mehr und mehr in eine Richtung zu bewegen, die ihn erschreckte. Aber irgendwie schien das für alles zu gelten, was er heute begann, ganz gleich, was er sagte, dachte oder tat. Andererseits - was hatte er erwartet, nach dem, was er heute erfahren hatte? Oh ja, jetzt erinnere ich mich: Ich war dabei, als vier meiner Freunde gestorben sind und ein paar andere in der Klapsmühle landeten. Ach, und meine Mutter ist an dem zerbrochen, was ich getan habe? Interessant. Und was gibt es zum Abendessen?

»Ganz bestimmt nicht.« Das sagte er laut.

»Was meinst du?« fragte Beate.

»Nichts«, antwortete Mark. »Oder doch, ja... natürlich ist etwas nicht in Ordnung. Aber ich möchte nicht darüber reden. Ich habe heute ein ganz besonderes Geburtstagsgeschenk bekommen, weißt du. Ich fürchte nur, es gefällt mir nicht besonders.«

»Sagtest du nicht, du willst nicht darüber reden?« Beate nahm ihre Lederjacke vom Stuhl, warf sie sich mit einem energischen Schwung über die linke Schulter und kam um den Tisch herum. Mark folgte ihr, während sie sich ihren Weg durch das Stuhllabyrinth des Cafes bahnte und wie selbstverständlich nach links wandte. Nach links, nicht nach rechts. In die Richtung, in der Marks Elternhaus lag.

Einen Moment lang überlegte er ernsthaft, ob es Zufall war. Sicher, es war eine Fünfzig-Prozent-Chance, aber normal wäre gewesen, daß sie stehenblieb und ihn fragte, wohin, statt ganz selbstverständlich loszugehen und ganz selbstverständlich (und zielsicher?) in diese Richtung.

Was hatte er gerade über Paranoia gesagt?

»Es hat mit deinem Vater zu tun, nicht wahr?« fragte Beate, während sie nebeneinander die Straße hinunterschlenderten.

»Hm«, machte Mark. Im Gehen sah er über die Schulter zurück und stellte fest, daß der BMW noch immer an der gleichen Stelle stand. Wahrscheinlich würde er auch in einer Stunde noch genauso dastehen, oder in zwei. Was zum Teufel erwartete er eigentlich? Daß sie im Schrittempo hinter ihnen herfuhren?

»Wäre es nicht eine gute Idee, dich mit ihm auszusprechen?« fragte Beate. »Ich meine - heute ist dein Geburtstag. Immerhin ein Anlaß.«

»Hm«, machte Mark erneut.

Beate sah ihn schief an. »Irre ich mich, oder ist dein Wortschatz plötzlich drastisch geschrumpft?«

Mark hätte beinahe zum dritten Mal auf die gleiche Weise geantwortet, aber dann zuckte er statt dessen nur mit den Schultern und sagte gar nichts. Er hatte keine Lust, zu reden. Bisher hatte er beinahe jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, Schaden damit angerichtet. Vielleicht sollte er sich die Lippen zunähen lassen.

Aber Beate gab nicht so rasch auf. Sie blieb stehen und drehte sich so herum, daß er um sie herumgehen oder sie gewaltsam aus dem Weg hätte schieben müssen. »Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte sie. »Ich nehme mir ein Taxi und fahre zurück in mein dunkles, muffiges Zimmer in der Klinik, und du gehst nach Hause und sprichst dich mit deinem Vater aus. Deinen Geburtstag feiern wir einfach später.«