Er trat ein, winkte Beate, ihm zu folgen, und schob die Tür so leise ins Schloß, wie er konnte, ohne daß es auffiel.
»Es scheint niemand da zu sein«, sagte Beate.
Mark hob die Schultern. »Wahrscheinlich ist mein Vater oben in der Bibliothek«, sagte er. »Ich glaube manchmal, er lebt dort.« Er atmete hörbar ein. »Also dann: auf in die Höhle des Löwen.«
»Ich muß mich vorher noch etwas... frisch machen«, sagte Beate mit einem verlegenen Lächeln. »Geh ruhig schon vor. Ich komme sofort nach.« Sie wandte sich nach rechts und verschwand mit raschen Schritten in der Gästetoilette. Mark wunderte sich ein bißchen, woher sie überhaupt wußte, wo diese war, verfolgte den Gedanken aber nicht weiter. Es war wohl nicht sehr schwer, es zu erraten. Außerdem gab es im Moment Wichtigeres, als darüber nachzudenken. Sein Herz klopfte, und er war sehr nervös. Es kostete ihn enorme Überwindung, die Treppe hinaufzugehen und die Bibliothek zu betreten.
Sein Vater war nicht da, aber etwas von seiner Anwesenheit schien noch in der Luft zu vibrieren, und die Spuren dessen, was er in den letzten Stunden getan hatte, waren überdeutlich auf dem Schreibtisch zu sehen. Die normalerweise spiegelblank polierte Platte glich einem Trümmerfeld. Überall stapelten sich Papiere, Fotos und lose Blätter, und das Telefon, das zur Hälfte unter einem Papierwust vergraben war, hatte einen Riß, als wäre es heruntergefallen oder der Hörer mit solcher Wucht auf die Gabel geschmettert worden, daß das Kunststoffgehäuse geborsten war. Trotzdem mußte es wohl noch funktionieren, denn die rote Lampe des Anrufbeantworters flackerte, um darauf aufmerksam zu machen, daß eine Nachricht eingegangen war.
Mark ging ziellos zum Tisch und ließ seine Finger über die darauf ausgebreiteten Papiere gleiten. Sie interessierten ihn nicht wirklich, ganz im Gegenteil war sein Bedarf an Geheimnissen für heute mehr als gedeckt. Er wollte gar nicht wissen, was da vor ihm lag.
»Na - schnüffelst du wieder herum?«
Mark drehte sich zu seinem Vater um. Er hatte nicht einmal gehört, daß er hereingekommen war, aber auch das gehörte zu den Eigenheiten seines Vaters: Trotz seiner Masse konnte er sich so lautlos wie die sprichwörtliche Katze bewegen. Sein Gesicht trug den üblichen Ausdruck: eine Mischung aus Zorn, Härte und einem unauslöschlich eingegrabenen Mißtrauen der ganzen Welt gegenüber. Aber da war auch noch etwas - ein Schrecken, der vielleicht noch nicht ganz erwacht war, aber bereits seinen Schatten vorauswarf.
Mark widerstand dem Impuls, die Hand wie ein ertappter Sünder hastig zurückzuziehen. »Ich war in der Klinik«, sagte er.
»Ich weiß.« Sein Vater schloß die Tür und kam näher. »Du hast mit deiner Mutter gesprochen, nehme ich an?«
Mark verneinte. »Ich wollte es, aber sie haben mich nicht zu ihr gelassen. Vielleicht war es ganz gut so.«
»Möglicherweise«, antwortete sein Vater. »Für sie bestimmt. Und was willst du jetzt hier? Deine Szene von heute morgen fortsetzen oder vernünftig reden?« Er hatte den Schreibtisch erreicht und begann mit hektischen Bewegungen, die Papiere zusammenzuraffen, die darauf lagen, um sie wahllos in Schubladen zu stopfen. Er sah Mark nicht an.
Mark schluckte den Ärger herunter, den die Worte seines Vaters schon wieder in ihm wachriefen. Er konnte nun einmal nicht aus seiner Haut. »Vernünftig reden«, sagte er, mühsam beherrscht. »Erinnerst du dich an heute morgen? Du hast vorgeschlagen, daß wir gemeinsam essen gehen und uns unterhalten. Vielleicht war das eine ganz gute Idee.«
Zum ersten Mal, seit er hereingekommen war, war es ihm gelungen, seinen Vater zu verblüffen - damit hatte er sichtlich nicht gerechnet. Für einen winzigen Moment erstarrte er mitten in der Bewegung, aber dann fing er sich wieder und schaltete auch mit der gewohnten Schnelligkeit um.
»Sicher«, sagte er. »Jetzt gleich?«
Mark sah bezeichnend auf den noch immer halb verwüsteten Schreibtisch. »Wenn es im Moment nicht -«
»Das kann warten«, unterbrach ihn sein Vater. »Gib mir zehn Minuten, um mich umzuziehen. Was ist mit diesem Mädchen? Hast du ihr wenigstens abgesagt?«
Mark konnte nicht anders, als das perfekte Gedächtnis seines Vaters zu bewundern. Bei all der Aufregung, die hinter ihnen lag, erschien es ihm beinahe unglaublich, daß er sich auch an dieses winzige Detail ihres Gespräches vom Morgen noch erinnerte. »Nein«, sagte er.
»Das solltest du aber. Es ist sehr unhöflich, eine Verabredung nicht einzuhalten, ohne wenigstens abgesagt zu haben.«
»Wer hat gesagt, daß ich sie nicht eingehalten habe?« fragte Mark. Er machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Sie ist unten. Ich dachte mir, wir nehmen sie mit - falls du nichts dagegen hast.«
Sein Vater hatte etwas dagegen, das sah er ihm deutlich an. Aber er protestierte nicht laut, sondern zuckte nur mit den Schultern und fuhr fort, seinen Schreibtisch abzuräumen, wobei er auch weiter Papiere, Bilder und kleine Zettel mit hastig hingekritzelten Berechnungen und Tabellen wahllos in die Schubladen stopfte. Es würde Stunden dauern, um dieses Chaos wieder zu ordnen, dachte Mark. Allmählich regte sich doch die Neugier in ihm, was sein Vater in den letzten Stunden getan hatte. Das rote Licht des Anrufbeantworters flackerte noch immer, aber sein Vater machte keine Anstalten, die aufgezeichnete Botschaft abzuhören.
»Soll ich so lange hinausgehen?« Mark machte eine Geste auf das Gerät, aber sein Vater schüttelte den Kopf.
»Nicht nötig. Ich weiß, wer angerufen hat. Es ist nicht wichtig. Er wird sich wieder melden, und wenn nicht - um so besser.« Er hatte die letzten Papiere vom Tisch gefegt und schlug die Schreibtischschublade mit einem Knall zu.
»Du hast dich also entschlossen, mir wenigstens eine Chance zu geben?« sagte er. »Ich muß gestehen, daß ich kaum noch damit gerechnet habe. Um so mehr freut es mich, daß du es doch tust. Es muß ein ziemlicher Schock für dich gewesen sein.«
»Das ist es noch«, antwortete Mark. »Ich glaube nicht, daß ich es schon ganz begriffen habe.«
»Wie auch?« Sein Vater schloß für einen kurzen Moment die Augen. »Ich habe es bis heute noch nicht ganz begriffen, und ich werde es wahrscheinlich auch nie. Vielleicht will ich es nicht. Ich schätze, wir haben alle Fehler gemacht.«
»Ja«, sagte Mark. »Es sieht so aus.«
Ein seltenes Gefühl breitete sich zwischen ihnen aus: Verlegenheit. Schließlich kam sein Vater um den Tisch herum und streckte die Hand aus. »Versuchen wir das Beste daraus zu machen, okay?«
Die Geste war theatralisch, rührend und irgendwie sogar ein bißchen albern, aber vielleicht wirkte sie gerade deshalb so überzeugend. Möglicherweise, dachte Mark, waren ja alle echten Regungen so - und er durfte auch nicht vergessen, daß sein Vater es nicht gewohnt war, Gefühle zu zeigen - ihm gegenüber schon gar nicht. Also griff er nach seiner ausgestreckten Hand und drückte sie, und im gleichen Augenblick, auf den Sekundenbruchteil genau, als hätte ein bösartiger unsichtbarer Regisseur im Hintergrund nur darauf gewartet, ging die Tür auf, und Beate trat ein.
Das Lächeln seines Vaters gefror. In seinem Blick erschien ein Entsetzen, das Mark nicht mit Worten beschreiben konnte, aber das in ihm selbst eine plötzliche Woge roter, rasender Panik auslöste: eine Furcht von solcher Urgewalt, daß er um ein Haar aufgeschrien hätte und herumfuhr, ohne die Hand seines Vaters losgelassen zu haben. Während des Sekundenbruchteils, den die Bewegung beanspruchte, war er hundertprozentig davon überzeugt, zu wissen, was er sehen würde: das Ding aus seinen Träumen, die Bestie ohne Gesicht, die gekommen war, um ihn für all das Unrecht zu bestrafen, das er seinem Vater in den letzten sechs Jähren angetan hatte.
Doch unter der Tür stand nicht der Würgeengel, sondern Beate. Sie war in einer fast komisch anmutenden, nicht zu Ende geführten Bewegung erstarrt, und auf ihrem Gesicht lag noch ein verblassender Rest des Lächelns, mit dem sie eingetreten war, und das nun allmählich einem Ausdruck vollkommener Verwirrung Platz zu machen begann. Weder Marks überhastete Bewegung noch der Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters konnten ihr entgangen sein.