»Wieso?« Marks Stimme wurde lauter. Er wollte nicht schreien. Er wollte seinem Vater diesen Triumph nicht gönnen, aber seine Kraft war erschöpft. Seine Hände zitterten immer heftiger, und sein Herz schlug jetzt so laut, daß es seine eigenen Worte zu übertönen schien. Zorn und Enttäuschung machten ihn fast rasend. »Vielleicht habe ich dir doch unrecht getan«, sagte er. »Du bist noch viel schlimmer, als ich gedacht habe.«
»Mark!« sagte sein Vater scharf. »Hör mir zu! Du verstehst nicht, was -«
»Ich verstehe sehr gut!« schrie Mark. »Es reicht dir immer noch nicht! Du glaubst immer noch, du könntest über mich bestimmen wie über etwas, das dir gehört! Aber das kannst du nicht, hörst du? Das wirst du nie wieder können!«
»Mark!« sagte sein Vater erneut. »Bitte hör doch zu! Dieses Mädchen ist nicht das, was es zu sein vorgibt! Ich weiß, daß es weh tut. Es tut immer weh, wenn man begreift, daß man belogen wurde.«
»Ja«, sagte Mark, »das stimmt. Wenigstens das habe ich von dir gelernt.«
»Und es tut mir leid«, erwiderte sein Vater. »Darum versuche ich ja gerade, dich vor noch einem viel größeren Fehler zu bewahren!«
»Fehler?« Mark lachte schrill. »Oh ja, ich habe einen Fehler gemacht! Es war ein Fehler, überhaupt hierher zu kommen. Ich hätte tun sollen, was ich von Anfang an vorhatte, und einfach verschwinden. Ich hätte dir niemals zuhören dürfen.«
Er fuhr herum und wollte zur Tür gehen, aber sein Vater machte eine blitzschnelle Bewegung und ergriff ihn am Arm. Nicht nur, um ihn festzuhalten, sondern hart, fast schmerzhaft, und vielleicht war es die Art dieser Berührung, die unbedingten Gehorsam verlangte und keinen Widerspruch duldete, die den Faden endgültig zum Zerreißen brachte.
Mark bewegte sich fast ohne eigenes Zutun. Mit einem zornigen Ruck riß er sich los und versetzte seinem Vater gleichzeitig mit der flachen Hand einen Stoß vor die Brust, der diesen zurücktaumeln ließ und vermutlich zu Boden geschleudert hätte, wäre er nicht gegen die Schreibtischkante geprallt. Das Zimmer schien sich plötzlich vor Marks Augen zu verdunkeln, alles drehte sich um ihn, und sein Herz schlug plötzlich so laut und schwer, daß das Geräusch den gesamten Raum auszufüllen schien: ein dunkles, maschinenhaftes Hämmern und Stampfen, das nicht länger mehr das Geräusch seines eigenen Herzschlages war, sondern der dröhnende Rhythmus aus seinem Traum. Die Bibliothek veränderte sich. Licht und Schatten tauschten ihre Plätze, und sein Gesichtsfeld schien sich zusammenzuziehen, bis darin nur noch Raum für das Gesicht seines Vaters war, das vor Staunen und Überraschung zu einer Grimasse wurde. Dahinter wuchs etwas Dunkles heran. Er hörte wispernde Stimmen und einen summenden, an- und abschwellenden Ton. Und für einen kurzen, zeitlosen Augenblick glaubte er flackernden Kerzenschein zu sehen.
Bevor die Vision übermächtig werden konnte, fuhr er auf dem Absatz herum und rannte aus dem Zimmer.
23. Kapitel
»Ich glaube fast, Sie haben recht«, sagte Sendig. »Sie könnte es sein.« Er hatte sich so weit vorgebeugt, daß sein Gesicht fast gegen die Scheibe stieß und das Glas unter seinem Atem beschlug, während er aus angestrengt zusammengekniffenen Augen zu der Gestalt auf der anderen Straßenseite hinüberstarrte. Bremer fragte sich allerdings, was er auf diese Weise zu erkennen hoffte. Sie standen sicherlich dreißig Meter vom Gartentor der Sillmann-Villa entfernt, noch dazu auf der anderen Straßenseite und in einem ungünstigen Winkel, entschieden zu weit, um das Gesicht des dunkelhaarigen Mädchens identifizieren zu können. »Sie ist es«, sagte er schlechtgelaunt. »Ich bin ganz sicher. Ich war ihr so nahe wie jetzt Ihnen.«
Sendig wandte kurz den Kopf und sah ihn mißtrauisch an, fuhr dann aber fort, die Scheibe vollzuhauchen und gleichzeitig nervös und unrhythmisch auf der Armlehne zu trommeln. »Es ist ja nicht so, daß ich Ihre Beobachtungsgabe anzweifle«, sagte er nach einer Weile. »Aber ich habe mich erkundigt, wissen Sie? Niemand kennt dieses Mädchen im Stift.« Er zögerte einen ganz kurzen Moment, ehe er hinzufügte: »Übrigens kann sich auch niemand daran erinnern, daß der junge Sillmann mit ihr zusammen weggegangen wäre.«
»Außer mir«, sagte Bremer.
»Außer Ihnen.« Sendig nickte und sah endlich wieder ganz in seine Richtung. »Diese Geschichte wird immer mysteriöser. Ich glaube beinahe, wir hatten bisher den falschen Sillmann im Visier.«
»Wir«, antwortete Bremer mit Nachdruck, »hatten bisher doch wohl überhaupt niemanden im Visier. Sie sagen mir ja nichts.«
Sendig grinste, als hätte er einen besonders guten Scherz zum besten gegeben, drehte den Kopf wieder nach rechts und hob plötzlich die Hand, als wenn er etwas sagen wollte. »Schauen Sie!« sagte er. »Er kommt!«
Bremer lehnte sich ein bißchen nach vorne, um an Sendig vorbei einen Blick auf das Haus werfen zu können. Tatsächlich war die Haustür aufgegangen, und Mark Sillmann stürmte heraus. Er ging nicht etwa - er stürmte mit gewaltigen Schritten auf das Tor zu. Eine Winzigkeit mehr, und er wäre gerannt. Die beiden Polizisten beobachteten, wie er den Garten durchquerte und das Tor mit solcher Wucht hinter sich zuwarf, daß sie den Knall bis hierher hören konnten.
»Hoppla«, sagte Sendig. »Scheint, als hinge der Haussegen bei den Sillmanns ein bißchen schief.«
Bremer schwieg. Sie waren viel zu weit entfernt, um etwas von dem Gespräch mitbekommen zu können, das sich zwischen Mark und dem Mädchen entwickelte, aber die Körpersprache der beiden verriet genug. Bremer war nicht ganz sicher, ob er einen Streit beobachtete, zumindest aber eine sehr hitzige Diskussion. Das Mädchen setzte zwei-, dreimal dazu an wegzugehen, aber Mark hielt es jedesmal mit mehr oder weniger sanfter Gewalt zurück und redete heftig gestikulierend weiter. Die Diskussion dauerte nur wenige Minuten. Schließlich beruhigten sich Sillmann und das Mädchen und gingen nebeneinander und sehr schnell, aber ohne sich zu berühren, davon.
»Folgen wir ihnen?« fragte Bremer. Er streckte die Hand nach dem Zündschlüssel aus, und Sendig nickte, hielt aber zugleich seinen Arm fest.
»Ja, aber nicht gleich. Warten Sie einen Moment. Besser, sie merken es nicht.«
So erregt, wie die beiden waren, dachte Bremer, hätten sie wahrscheinlich nicht einmal gemerkt, wenn er ihnen mit einem Schützenpanzer hinterhergefahren wäre. Aber natürlich hatte Sendig recht - wie fast immer. Es war besser, vorsichtig zu sein.
»Ich würde meine rechte Hand dafür geben, zu wissen, was da passiert ist«, sagte Sendig leise und im Ton eines Selbstgespräches. »Er hat Ihnen nicht gesagt, was genau er dort wollte?«
»In der Klinik?« Bremer schüttelte den Kopf. »Er wollte seine Mutter besuchen.«
»Zum zweiten Mal an einem Tag?« Sendig machte eine wedelnde Handbewegung. »Sehr seltsam... und dann dieses Mädchen... Ich habe das Gefühl, daß wir ganz dicht davor stehen, etwas sehr Interessantes herauszufinden.«
Plötzlich war er sehr aufgeregt. »Also gut, Bremer. Sie nehmen den Audi und fahren den beiden nach. Aber vorsichtig! Sie dürfen Sie nicht bemerken. Und greifen Sie nicht ein, egal was passiert.«
Er griff in die Manteltasche und fingerte die Schlüssel des Dienstwagens heraus, der fünfzig Meter die Straße hinab hinter der nächsten Biegung geparkt war. »Also los. Ich bleibe hier und behalte das Haus im Auge. Ich habe das Gefühl, daß sich hier bald etwas tut. Sie haben meine Telefonnummer?«
»Nein«, antwortete Bremer, während Sendig nach dem Schlüssel griff und mit der linken Hand bereits die Tür des Mercedes öffnete. »Wozu? Der Audi hat Funk und -«
»Ja, und genau den sollen Sie nicht benutzen«, unterbrach ihn Sendig. »Fragen Sie nicht, warum, tun Sie es einfach. Hier ist meine Nummer.« Er drückte Bremer einen kleinen Zettel in die Hand, auf dem er bereits die Nummer des Autotelefons notiert hatte, und begann ungeschickt, über den Ganghebel hinweg auf den Fahrersitz des Mercedes zu rutschen, kaum daß Bremer aus dem Wagen gestiegen war. »Und jetzt beeilen Sie sich, bevor die beiden weg sind.«