Bremer verdrehte die Augen, aber er ersparte sich den Hinweis, daß es Sendig selbst gewesen war, der ihn noch vor kaum einer Minute daran gehindert hatte, Mark und seiner Freundin sofort zu folgen. Statt dessen warf er noch einen letzten prüfenden Blick zu den beiden Gestalten hinüber, die schon fast das Ende der Straße erreicht harten, und setzte sich dann in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung. Er rannte nicht, um nicht aufzufallen, aber er ging doch sehr schnell, und er widerstand auch der Versuchung, sich erneut herumzudrehen, als er die Biegung erreichte. Er hatte zwar seine Uniform gegen zivile Kleidung getauscht, wie Sendig geraten hatte, aber er wollte trotzdem kein Risiko eingehen.
Als er um die Ecke bog und die Straße überquerte, um den Audi zu erreichen, der auf der anderen Straßenseite geparkt war, war er ein wenig unaufmerksam. Er bemerkte den Wagen, der in raschem Tempo herangefahren kam, erst im allerletzten Moment und mußte sich mit einem hastigen Satz zurück auf den Bürgersteig in Sicherheit bringen. Trotzdem fuhr der Wagen so dicht an ihm vorbei, daß er den Luftzug spüren konnte. Bremer drehte sich fluchend herum, und der Polizist in ihm suchte ganz automatisch nach dem Nummernschild des Wagens. Fast beiläufig registrierte er, daß es kein Berliner Kennzeichen war, aber seine Aufmerksamkeit reichte nicht mehr aus, den Rest zu identifizieren - er riß ungläubig die Augen auf, und aus seinem zornigen Erschrecken wurde Überraschung - und dann ein neuer, aber gänzlich anderer Schrecken.
Es war nicht irgendein Wagen, der ihn fast überfahren hätte. Es war ein dunkelblauer großer BMW mit getönten Scheiben. Bremer sah ihn nur noch einen Sekundenbruchteil, ehe er, ohne den Blinker betätigt zu haben oder irgendwie seine Geschwindigkeit herabzusetzen, um die Ecke bog, aber er erkannte in dieser kurzen Zeitspanne doch einige weitere, beunruhigende Details. Der Wagen verfugte neben seiner normalen auch noch über zwei weitere, kleine Antennen: eine auf dem Dach und eine zweite auf dem hinteren Kotflügel. Trotz der überbreiten Reifen und der Spurverbreiterung lag der Wagen sehr tief, und er bewegte sich kaum in den Federn, als er abbog, was auf ein enormes Gewicht schließen ließ. Eigentlich gab es nur eine Erklärung dafür: Der Wagen war gepanzert. Und das wiederum bedeutete, daß -
Bremer beschloß, später darüber nachzudenken, was diese Erkenntnis in letzter Konsequenz bedeuten mußte, fuhr auf dem Absatz herum und rannte auf den Audi zu, so schnell er nur konnte.
24. Kapitel
Das Licht auf dem Anrufbeantworter flackerte noch immer. Seit Mark gegangen war, waren sicher fünf Minuten verstrichen, aber weder in der Bibliothek noch im Rest des Hauses hatte sich in dieser Zeit irgend etwas gerührt. Die einzige Illusion von Bewegung kam von diesem regelmäßig an- und ausgehenden roten Licht.
Sillmann öffnete die Augen. Er hatte wie erstarrt dagestanden, seit Mark gegangen war. Er konnte sich nicht erinnern, wie lange oder was er in dieser Zeit gedacht hatte. Vielleicht nichts. In ihm war plötzlich nur eine große Leere, in der nicht einmal mehr Platz für Enttäuschung oder Angst war.
Ganz langsam, als müsse er gegen unsichtbare Tonnengewichte ankämpfen, die auf seinen Gliedern lasteten, drehte er sich herum und trat wieder an den Schreibtisch heran. Seine Hand streckte sich nach dem Telefon aus, verharrte für endlose Sekunden zitternd darüber und führte die Bewegung dann noch langsamer zu Ende. Das rote Licht des Anrufbeantworters flackerte noch immer, aber er hörte die Botschaft auch jetzt nicht ab. Sie war unwichtig geworden. Nichts hatte mehr irgendeine Bedeutung.
Sillmanns Finger tippten die elfstellige Nummer eines Satellitenanschlusses, und am anderen Ende wurde abgehoben, kaum daß er den Hörer ans Ohr genommen hatte. Eine kalte, unpersönliche Stimme meldete sich mit einem einzigen Wort: »Ja?«
»Sillmann hier«, meldete er sich. »Sie hatten recht. Es tut mir leid. Ich... kann jetzt nichts mehr tun.«
Er bekam keine Antwort. Aus dem Hörer drang nur Schweigen, allenfalls, hätte man ganz aufmerksam gelauscht, das Geräusch ganz leiser, sehr regelmäßiger Atemzüge. Nach ein paar Sekunden wurde aufgelegt.
Sillmann ließ den Telefonhörer auf den Schreibtisch sinken, › setzte sich in den schweren Ledersessel und schloß die Augen. Er lauschte in sich hinein, wartete auf irgend etwas, irgendeine Reaktion, irgendein Gefühl, aber da war nichts. Er war ausgebrannt, nicht einmal mehr fähig, Angst zu empfinden. Selbst dafür wäre er in diesem Moment dankbar gewesen, aber selbst das konnte er nicht mehr. Er dachte an das Gespräch mit Petri zurück: Es hat begonnen.
Ja, es hatte angefangen: später, als er befürchtet, und soviel früher, als er gehofft hatte. Es hatte begonnen, und keine Macht dieser Welt konnte es jetzt noch aufhalten.
Mark war wieder in jenem furchtbaren Keller, der von Kerzenschein und dem Wehklagen verdammter Seelen erfüllt war, und er hörte auch wieder den Herzschlag und die lautlose Stimme, die seinen Namen flüsterte und ihn Taten beschuldigte, an die er sich nicht erinnern konnte, von denen er aber nun wußte, daß er sie begangen hatte. Das Gespenst war da. Es stand hinter ihm und war nun endgültig zum Monster aller Kinderträume geworden, denn so große Angst es ihm auch machte, so wußte er doch, daß es ihm nichts anhaben konnte, solange er sich nur nicht herumdrehte und es ansah.
Aber wie lange würde er das können?
Dieser Traum - der viel weniger Traum als eine fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Erinnerung war (aber eben nur fast) - gehorchte seiner eigenen, simplen Logik, die die eines noch ziemlich naiven Zwölfjährigen war, nicht die eines Erwachsenen, und diese Logik war auf der einen Seite zwar dafür verantwortlich, daß alles, was er nicht sah, auf der anderen Seite auch ihn nicht sehen und ihm somit nichts zuleide tun konnte, aber sie verlieh dem gesichtslosen Schrecken auf der anderen Seite auch die Macht eines Gottes. Seine Unverwundbarkeit war nicht absolut. Das Ungeheuer würde ihn zwingen, ihn anzusehen, sobald seine Konzentration auch nur für einen winzigen Moment nachließ. Und er konnte bereits spüren, wie seine Kräfte schwanden. Dies hier war nicht die Welt, in die er gehörte. Es war nicht die Wirklichkeit - nicht die Wirklichkeit, die er kannte und verstand, aber es war auch weit mehr als eine Illusion. Er nannte es einen Traum, aber das war es nicht, sondern vielmehr ein Teil eines anderen, düsteren Universums, in dem Zeit und Raum ebensowenig Bestand hatten wie Realität und in dem er sich für eine Weile als Gast aufhalten konnte (oder als Gefangener?). Aber dieser Aufenthalt war nicht umsonst. Jede Sekunde, die er hier war, kostete Kraft, jeder Augenblick, den er länger in dieser vielleicht düstersten Ecke des Universums verweilte, stahl ihm etwas von seiner Energie, vielleicht seiner Lebenskraft.
Er mußte diesen Keller verlassen. Aber wie?
Die Vision hatte fast an der gleichen Stelle wieder eingesetzt, an der sie aufgehört hatte: Er stand wieder vor der rostigen Eisentür, durch die der hämmernde schwere Herzschlag drang, und er sah das Licht, das durch den allmählich breiter werdenden Spalt zwischen ihr und dem Rahmen drang, und die tanzenden Schatten dahinter, und wieder begriff er mit unerschütterlicher Sicherheit, daß etwas Furchtbares geschehen würde, wenn er durch diese Tür schritt.
Mark glaubte sich zu erinnern, daß es einen anderen Ausgang aus diesem Keller gab - eine zweite Tür, vielleicht auch nur ein offener Durchgang auf der anderen Seite, nicht einmal ein Dutzend Schritte hinter ihm, und trotzdem unerreichbar, denn dorthin zu gehen hätte bedeutet, sich zu den Phantomen am Boden umzudrehen und der anderen, weit schlimmeren Gestalt, die hinter ihm stand, und die ihn zweifellos vernichten würde, sobald er den Schutz des Nicht-Sehens und dadurch Nicht-gesehen-Werdens aufgab.