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Er saß in der falle. Er konnte nicht hierbleiben, er konnte nicht weitergehen, und er konnte nicht zurück.

Vielleicht war es einfach an der Zeit, sich der Wahrheit zu stellen.

Der Gedanke entstand so klar artikuliert in seinem Kopf, als hätte ihn tatsächlich jemand ausgesprochen, der unsichtbar bei ihm war, und im gleichen Augenblick fielen Furcht und Entsetzen wie ein zu lange getragenes Kleidungsstück von ihm ab.

Es war an der Zeit.

Mark hob den Arm, streckte die Hand aus und berührte die Tür mit gespreizten Fingern, ganz sacht, unendlich vorsichtig, wie er eine glühende Herdplatte berührt hätte oder das Netz einer schlafenden Spinne, das er irgendwie überwinden mußte, ohne das giftige Tier zu wecken.

Es erwachte nicht. Die Tür war nicht heiß, aber auch nicht so kalt, wie ihr metallener Anblick hätte erwarten lassen, und nicht einmal annähernd so schwer, wie ihre wuchtigen Formen suggerierten. Sie fühlte sich warm an, und auf eine schwer in Worte faßbare Art weich und beinahe lebendig, und obwohl seine Berührung kaum mehr als ein Hauch gewesen war, schwang sie langsam vor ihm zurück und gab den Blick in den dahinterliegenden Raum -

»Sag mal - träumst du?«

Mark fuhr so erschrocken hoch, daß er sein Glas umstieß. Er fing es auf, ehe es vom Tisch rollen konnte, war sich der Bewegung aber selbst kaum bewußt.

Er hatte Mühe, sofort in diesen Teil der Wirklichkeit zurückzufinden, aber ein Gedanke entstand ganz deutlich in seinem Kopf: daß er wieder im letzten Moment gerettet worden war, wie die anderen Male - wie jedes Mal! - zuvor. War das vielleicht der wirkliche Schrecken, den dieser Traum für ihn bereithielt: daß er niemals erfahren sollte, was auf der anderen Seite der Tür lag?

»Was?« fragte er verwirrt.

»Ich habe dich gefragt, ob du träumst!« schrie Beate - sie mußte schreien, um den stampfenden Techno-Rhythmus zu übertönen, der aus einem Dutzend Richtungen zugleich auf sie herabhämmerte.

»Ich habe dich jetzt dreimal gefragt, ob du Lust hast, zu tanzen!« fuhr Beate fort. »Ich meine - du mußt nicht. Ich bin dir nicht böse. Aber du könntest wenigstens antworten!«

Mark blickte sie weiter verständnislos an, ebenso wie das Glas in seiner Hand, das er aufgefangen hatte, ohne auch nur das geringste dazu getan zu haben. Seine Reflexe funktionierten offensichtlich auch unabhängig von dem, was in seinem Kopf vorging. Der Inhalt des Glases war in einer halbkreisförmigen Spur auf dem Tisch vor ihm verteilt, soweit er nicht bereits zu Boden getropft war, und der scharfe Geruch, der davon aufstieg, verriet ihm, daß er nicht nur aus purer Cola bestanden hatte. Seltsam - er konnte sich gar nicht erinnern, Whisky getrunken zu haben. Er lauschte in sich hinein, aber er spürte nichts von irgendeiner Wirkung. Er schmeckte übrigens auch keinen Alkohol.

»War das... deines?« fragte er verlegen.

Beate verdrehte in gespieltem Entsetzen die Augen. »Ja. Aber ich bestelle mir gerne ein neues. Es sei denn, du bist Gentleman genug, es für mich zu tun. Immerhin hast du mir ja auch die Hälfte meines Drinks auf die Füße gekippt.«

Mark stellte das Glas mit einer schuldbewußten Bewegung und sehr hastig endlich wieder auf den Tisch und hob ebenso rasch die Hand, um nach dem Kellner zu winken, aber er sah die Sinnlosigkeit dieses Vorhabens fast im gleichen Moment auch schon ein. Es gab tatsächlich mehrere Kellner, aber die Wahrscheinlichkeit, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, war gleich Null. Dann und wann tauchte ein Tablett an einem ausgestreckten Arm über den Köpfen der dichtstehenden Menge auf, das mit einer für Mark schier unvorstellbaren Sicherheit durch das Tohuwabohu geschifft wurde, aber er sah keinen der dazugehörigen Kellner. Schließlich stand er auf und deutete mit einer Kopfbewegung zur Bar. »Ich hole dir ein neues Glas«, brüllte er.

»Eine Aufforderung zum Tanzen wäre mir lieber«, schrie Beate in der gleichen Lautstärke zurück, was Mark aber geflissentlich ignorierte. Er hatte keine Lust, zu tanzen. Eigentlich hatte er nicht einmal Lust, hier zu sein. Die Diskothek war ihm zu laut, zu dunkel, zu hektisch. Es waren zu viele Menschen hier, und sie waren zu fröhlich. Es war sein Vorschlag gewesen, hierher zu kommen, nachdem sie eine ganze Weile ziellos durch die Straßen gelaufen waren und alles getan hatten - nur eines nicht: sich auszusprechen. Die Idee war gut gewesen - er hatte gehofft, daß der Lärm, die Nähe all dieser Menschen und die unzähligen Ablenkungen auch ihm helfen würden, auf andere Gedanken zu kommen - aber es hatte nicht funktioniert. Er war mittlerweile sehr sicher, daß nichts funktionieren würde. Er hätte nicht hierher kommen sollen, aber er wußte auch nicht, was er sonst hätte tun sollen. Vielleicht war dies eine der Situationen, in der es keine gute Lösung gab. Beate hatte sich alle Mühe gegeben, den häßlichen Zwischenfall zu überspielen, und er hatte zumindest die gute Absicht hinter diesem Vorhaben honoriert, indem auch er alles, was mit seinem Vater, seiner Mutter oder ihm selbst zu tun hatte, fast peinlich vermied. Sie hatten sich den ganzen Abend über Belanglosigkeiten unterhalten: kleine Anekdoten aus seinem Leben im Internat, die zum Teil wahr, zum Teil übertrieben und zum Teil vollkommen ausgedacht waren, sie hatten über Politik, Geschichte, den Sinn des Lebens und die neuesten Modetorheiten gesprochen, ein bißchen herumgealbert, dies und das getan und sich schließlich ganz bewußt dazu entschieden, den Abend so ausklingen zu lassen, wie es einem achtzehnten Geburtstag in einer Stadt wie Berlin vielleicht angemessen war: laut, fröhlich und lang und ohne irgendwelche Pläne für den nächsten Tag oder auch nur die nächste Stunde. Aber das war nur die Theorie. Die Praxis sah anders aus. Es verging kein Moment, in dem er nicht an seinen Vater dachte, und die Furcht hatte ihn den ganzen Abend über begleitet.

Sie - und ein fast verzweifelt unterdrückter, aber doch beharrlich nagender Zweifel. Von allem war vielleicht das das Schlimmste, was sein Vater ihm angetan hatte: Er begann sich zu fragen, ob er vielleicht recht hatte. Beate hatte sich seltsam benommen. Ihre Scherze auf dem Weg nach Hause waren ein bißchen zu penetrant gewesen, und auch ihr Auftreten am Morgen war vielleicht nicht normal.

Und wenn? dachte er trotzig. Selbst wenn es so wäre - welche Rolle spielte es eigentlich? Vielleicht zählte für sie tatsächlich zuerst sein Geld und dann er, aber selbst wenn es so sein sollte - zumindest im Augenblick war es ihm gleich. Er empfand jedenfalls etwas für sie, auch wenn er selbst noch nicht genau wußte, was es war, und irgendeine Garantie auf die ewige, reine Liebe hatte niemand. Selbst wenn sein Vater recht haben sollte, machte das sein Benehmen nicht entschuldbar. Es machte es eher schlimmer. Er hatte verdammt noch mal wie jeder andere das Recht, seine eigenen Fehler zu machen und daraus zu lernen.

Er hatte sich zur Bar durchgedrängelt, bestellte zwei frische Getränke und versuchte, sie zu ihrem Tisch zurückzubalancieren, ohne mehr als die Hälfte davon zu verschütten. In einer so hoffnungslos überfüllten Diskothek wie dem HADES erforderte diese Aufgabe fast seine ganze Aufmerksamkeit, so daß er erst wieder zu Beate aufsah, als er den Tisch fast erreicht hatte. Sie war nicht mehr allein. In das Gedränge rings um den kleinen Tisch hatte sich eine weitere Gestalt gemischt, die heftig gestikulierend auf Beate einredete und sie bereits so weit in eine Ecke gedrängt hatte, wie es überhaupt nur ging. Auch ohne den Höllenlärm ringsum hätte Mark kaum verstanden, worüber die beiden sprachen, aber das war auch nicht nötig. Jede Spur von Heiterkeit - ob nun aufgesetzt oder echt - war von ihrem Gesicht verschwunden. Sie stand in eindeutig abwehrender Haltung da und bewegte immer wieder den Kopf, um den zudringlichen Händen ihres Gegenübers auszuweichen.