25. Kapitel
Nicht eingreifen, hatte Sendig gesagt. Ganz gleich, was passiert, er darf Sie nicht bemerken. Sie beobachten ihn, weiter nichts.
Im Moment fiel es Bremer nicht ganz leicht, diesem Befehl Folge zu leisten. Vor einer Minute hatte er beobachtet, wie Mark Sillmann in hohem Bogen aus dem HADES geflogen war, und das im wortwörtlichen Sinn; er hatte bereits die Hand nach dem Türgriff ausgestreckt, aber dann war das Mädchen herausgekommen und hatte sich um Mark bemüht, und Bremer hatte sich im letzten Moment wieder an Sendigs Befehl erinnert. Er fragte sich, was im HADES vorgefallen sein mochte. Nach allem, was er über den jungen Sillmann wußte, war er kein Schläger, nicht einmal jemand, der sich so leicht auf einen provozierten Streit einließ.
Bremer zog die Hand wieder zurück, aber es dauerte einen Moment, bis er sich soweit entspannte, daß er sich ganz im Sitz zurücksinken lassen und beobachten konnte, was weiter geschah. Mark erhob sich unsicher auf die Füße und tastete mit den Händen über seinen Körper, als müsse er sich davon überzeugen, daß noch alles da war, machte aber trotzdem einen unverletzten Eindruck.
Bremer blieb allerdings aufmerksam. Sillmann und das Mädchen standen eine ganze Weile vor dem Eingang des HADES und debattierten sichtlich aufgeregt miteinander. Bremer hätte seine rechte Hand dafür gegeben, zu wissen, worüber die beiden sprachen. Vor allem das Mädchen.
Ihr Anblick erschreckte ihn jetzt kaum weniger als vorhin, als er sie auf dem Videoband gesehen hatte. Es war vollkommen unmöglich. Seine Logik und sein Verstand sagten ihm, daß es einfach nicht sein konnte. Aber seine Augen behaupteten das Gegenteil.
Die beiden begannen langsam die Straße hinunterzugehen. Bremer überlegte gerade, ob er aussteigen und ihnen zu Fuß folgen oder abwarten, bis sie die Kreuzung erreichten, und ihnen mit dem Wagen nachfahren sollte, als zwei Dinge gleichzeitig geschahen: Fünfzig Meter hinter ihm wurde ein Wagen angelassen, und im gleichen Moment meldete sich das Funkgerät.
Bremer erschrak regelrecht. Sendig hatte ihm eingeschärft, nicht den Polizeifunk zu benutzen - die Gefahr, abgehört zu werden, war zu groß -, aber sie hatten vor einer halben Stunde miteinander telefoniert und sich auf eine Frequenz geeinigt, die selten benutzt wurde, auch keine Garantie, nicht abgehört zu werden, aber immerhin eine Möglichkeit für Sendig, im Notfall Kontakt zu ihm aufzunehmen. Bremers Hand verharrte über dem Hörer, berührte ihn aber nicht. Das Gerät piepste dreimal, dann waren zehn Sekunden Pause, dann noch zweimal, dann war Ruhe. Das vereinbarte Zeichen.
Bremer warf einen raschen Blick zu Sillmann und dem Mädchen hinüber - sie gingen weiter in Richtung Kreuzung, bewegten sich aber nicht sehr schnell -, dann stieg er aus dem Wagen und ging mit schnellen Schritten zu der Telefonzelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Sendig meldete sich, noch bevor das Freizeichen das erste Mal zu Ende getutet hatte. »Verdammt, Bremer, wo bleiben Sie so lange?«
So lange? Bremer hatte allerhöchstens zehn Sekunden gebraucht, um die Zelle zu erreichen und die Nummer von Sendigs Autotelefon zu wählen. Aber Sendig ließ ihm gar keine Zeit, zu antworten, sondern fuhr bereits kurzatmig und in sehr erregtem Ton fort: »Egal. Hören Sie zu, Bremer. Wir haben nicht viel Zeit. Ich weiß jetzt, wer sie sind.«
»Sie?«
»Die Kerle in dem BMW, die Sie verfolgt haben«, antwortete Sendig. »Sie müssen den jungen Sillmann und das Mädchen vor ihnen schützen, haben Sie verstanden?«
»Ja«, antwortete Bremer verwirrt. »Aber wieso - ?«
»Fragen Sie jetzt nicht«, unterbrach ihn Sendig. Der Ton in seiner Stimme war keine Nervosität, dachte Bremer bestürzt. Es war nackte Panik. »Warnen Sie den Jungen! Schnell!«
Er hängte ein, ehe Bremer antworten konnte. Bremer starrte den Telefonhörer in seiner Hand noch eine halbe Sekunde lang beinahe feindselig an, dann hängte er ein und verließ die Telefonzelle. Sillmann und das Mädchen hatten die Ecke erreicht und bogen nach links ab, und im gleichen Moment blendeten die Scheinwerfer des Wagens fünfzig Meter entfernt auf, und er setzte sich mit kreischenden Reifen in Bewegung. Als er an Bremer vorbeischoß, erkannte er, daß es sich um einen dunkelblauen BMW handelte.
Bremer fluchte und rannte los, so schnell er konnte. Als er im Wagen saß und mit fliegenden Fingern den Zündschlüssel herumdrehte, hatte der BMW die Kreuzung erreicht und bog ab, ohne seine Geschwindigkeit spürbar zu verringern. Bremer fluchte erneut und noch lauter, hämmerte den Gang hinein und gab Gas.
Den zweiten Wagen bemerkte er erst, als er mit kreischenden Bremsen unmittelbar vor der Kühlerhaube des Audi zum Stehen kam und die beiden hinteren Türen aufflogen.
26. Kapitel
Der Aufprall war sehr hart gewesen. Die beiden Rausschmeißer hatten sich wohl einen Spaß daraus gemacht, ihre Aufgabe wörtlich zu nehmen: Mark war gute zwei Meter durch die Luft geflogen, ehe er auf dem Pflaster aufgeschlagen war, und er hatte das Gefühl gehabt, aus der zehnfachen Höhe aufzuprallen. Im ersten Moment schien es buchstäblich keinen Knochen in seinem Leib zu geben, der nicht weh tat.
Trotzdem war das nicht der Grund für seine Benommenheit. Dieser Grund war in ihm, eine heiße, brodelnde Wut, die in ihm loderte und kochte wie die Glut eines im Ausbrechen befindlichen Vulkans, ein schwarzes Ding mit Klauen und brennenden Augen und einer Haut aus schimmerndem hartem Chitin, das die Türen seines Gefängnisses endgültig aufgestoßen hatte und heraus wollte, das töten wollte, vernichten, zerreißen und zerfetzen, ganz gleich, was oder wen. Er zitterte am ganzen Leib. Der Druck in ihm hatte die Grenzen des Erträglichen längst erreicht und stieg immer noch weiter. Wahrscheinlich war es gut, daß der Rausschmeißer ihn zurückgehalten hatte. Er hätte den Burschen umgebracht, das, oder zumindest auf ihn eingeschlagen, bis der andere ihn umgebracht hätte.
»Bist du in Ordnung?«
Mark erkannte nur Beates Stimme. Als er den Kopf hob, sah er anstelle ihres Gesichts nur einen hellen, verwaschenen Fleck, eingefaßt von Konturen, die sich ständig zu verändern schienen vor dem Hintergrund eines zerbröckelnden, von flackerndem Kerzenschein beleuchteten Betonputzes. Er erkannte die Gefahr im letzten Moment. Der Grat zwischen diesem und jenem anderen, gewalttätigeren Alptraum begann immer schmaler zu werden. Er drohte abzurutschen, und vielleicht würde es ein Sturz, den er nie wieder auffangen konnte.
»Mark, was ist mit dir?« Beate/der Todesengel streckte die Hand nach ihm aus, um ihn zu - vernichten/helfen -berühren, und er konnte im letzten Moment den Impuls unterdrücken, ihren Arm mit aller Gewalt beiseite zu schlagen. Aber er wich ihrer Berührung aus und drehte sich in der gleichen Bewegung auf die Seite. Für einen kurzen Moment schloß er die Augen und preßte die Lider mit aller Gewalt aufeinander. Es tat weh, aber es half: Als er die Augen wieder öffnete, war Beates Gesicht wieder ihr eigenes. Die Wand hinter ihr war noch immer schäbig, aber es war jetzt wieder die heruntergekommene Fassade des HADES, nicht mehr der Alptraumkeller, und das flackernde Licht war nicht mehr das Hunderter Kerzen, sondern die Leuchtreklame der Diskothek.
»Es ist... alles okay«, sagte er mühsam.
»In Ordnung?« Beate zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen. »Du machst nicht unbedingt den Eindruck, als ob du okay wärst.«
Mark wich ihren bemüht ausgestreckten Händen erneut aus und stemmte sich umständlich in die Höhe. »Mir fehlt nichts«, versicherte er. »Es sah nur so wild aus. Der Kerl hatte wohl Mitleid mit mir.«
Beate blieb ernst. »Das meine ich nicht«, sagte sie. »Was ist denn da drinnen in dich gefahren? Benimmst du dich immer so?«